WEITER GEHEN – „Das Einzige, was wir tun können“

Das Jahr des Widerstands, Hintergrund

UPDATE: 17. 3. 2019

Bereits seit drei Monaten dauern die Massenproteste in Serbien nun an. Samstag für Samstag gehen zehntausende Menschen gegen Präsident Aleksandar Vučić und sein autoritäres Machtgefüge in Belgrad und über 60 weiteren Städten auf die Straße.

Es sind die größten Proteste seit 20 Jahren. Sie fordern Medienfreiheit, demokratische Grundrechte, ein Ende politischer Gewalt und Korruption sowie einen grundlegenden Systemwechsel.

Doch auch die Opposition, ein Bündnis von linken bis hin zu rechtsextremen Parteien, ist umstritten. Der Präsident weitet indes seinen Propagandafeldzug aus und begibt sich auf Wahlkampftour in die „Zukunft Serbiens“. Viele sind sich dennoch sicher: Sie wird ohne ihn stattfinden, der Anfang vom Ende Vučićs hat begonnen. Wer oder was danach kommt, wagt aber kaum jemand zu prognostizieren.

Eine Dunstglocke überzieht die serbische Hauptstadt. Heute ist sie dichter als irgendwo sonst auf der Erde. Belgrad verzeichnet Anfang Februar die höchste Luftverschmutzung – weltweit. Die Schlagzeile ruft bei vielen Bewohner*innen Kopfschütteln hervor, kann es wirklich sein, dass es hier schlimmer ist als in all den asiatischen Industriestädten, aus denen man die Bilder von Menschen mit Mundschutz unter gelbem Rauchschwaden kennt? Durchaus. Gleichzeitig wundert sich kaum jemand. Es ist nicht das erste Mal und eines jener unzähligen, aber allgegenwärtigen Probleme und Unwägsamkeiten, die das Leben hier tagtäglich bestimmen. Sie heften sich an jeden Schritt, jede Bewegung, dringen bis in die tiefsten Poren der Gesellschaft und der Menschen, mit jedem Atemzug.

Sie sind nur die letzten Auswüchse, die sichtbare Spitze jenes Eisbergs aus Korruption, Nationalismus und Propaganda, den man mit dem Sturz Slobodan Miloševićs im Jahr 2000 überwunden glaubte. Doch während dieser in Den Haag als Kriegsverbrecher angeklagt wurde, jedoch vor Prozessende starb, begann der Aufstieg seines ehemaligen, ultra-nationalistischen Informationsministers Aleksandar Vučić zum heutigen serbischen Präsidenten. Er will das Land in die EU führen, unterhält gleichzeitig enge Beziehungen zu Russland, auf dem internationalen Parkett gibt er den Demokraten. Doch in Serbien steht radikale Rhetorik am Programm seiner Srpska Napredna Stranka (Serbische Fortschrittspartei, SNS) und das Ausmaß totalitärer Machtkonzentration erreicht unter seiner Ägide einmal mehr neue Dimensionen.

Davon haben die serbischen Bürger*innen genug. Seit langem. Aber seit mehr als drei Monaten gehen Zehntausende von ihnen dagegen auf die Straße, und es werden jede Woche mehr. Als Auslöser der Proteste gilt der brutale Angriff auf den linken Oppositionspolitiker Borko Stefanović Ende November letzten Jahres. Nach einer Veranstaltung im zentralserbischen Kruševac prügelten maskierte Schläger Stefanović und seine beiden Begleiter krankenhausreif. Er erlitt schwere Kopfverletzungen, sein blutgetränktes Hemd wurde zum Symbol der Proteste.

Mit der Forderung STOP krvavim košuljama (STOPP den blutigen Hemden) demonstrierten am 8. Dezember über zehntausend Menschen in Belgrad für ein Ende der Gewalt, forderten demokratische Rechte, Medienfreiheit und den Rücktritt des Präsidenten.

Vučić reagierte gewohnt autoritär und verkündete, selbst wenn fünf Millionen – was in etwa der Zahl der Wahlberechtigten Serbiens entspricht – auf die Straße gingen, würde er keine einzige ihrer Forderungen erfüllen. Diese Arroganz schleudern ihm die Demonstrierenden seither als Bumerang um die Ohren und ziehen nun lautstark unter dem Motto 1 od 5 miliona (1 von 5 Millionen) durch Belgrad und über 60 weitere Städte.

Unüberhörbar, unübersehbar.

Es ist eine Verpflichtung, seinen Widerstand auszudrücken“

„Es ist das Einzige, was wir tun können“, sagt Nina Todorović. Sie ist vom ersten Tag an unter den Protestierenden. Weder die klirrende Kälte, noch die Schneemassen, die Belgrads ungeräumte Straßen zeitweilig fast unpassierbar machten, haben sie abgehalten, Woche für Woche stundenlang durch die Stadt zu marschieren. Wie so viele, die heute gegen Vučić demonstrieren, geht auch die Künstlerin nicht das erste Mal gegen ein autoritäres Regime auf die Straße. „Es begann 1991 mit den ersten Protesten gegen Milošević, da war ich noch Schülerin. Während der Demonstrationen 1996/97 beteiligte ich mich als Studentin an der Organisation verschiedener Bügerproteste, ebenso im Jahr 2000, bis zum Sturz von Milošević. Aber auch danach war ich bei allen Kundgebungen gegen Beograd na vodi (das Mega-Bauprojekt Belgrad am Wasser) dabei. Das ist eine ganz schön lange Zeit. Und meine Mutter geht seit 1968 auf die Straße. Die Menschen hier wachsen damit auf, gegen die Regierung zu protestieren.“

Ähnliches bestätigt Andrej Ivanji. Er arbeitet als Journalist für Vreme, eines der ganz wenigen unabhängigen Magazine Serbiens. „Das sind wirklich Bürgerproteste. Es ist endlich ein Ventil für all den aufgestauten Frust, all die ungehörte Kritik“, ist er sich sicher. „Die Leute gehen aus verschiedenen Gründen zu den Demonstrationen. Vor allem, weil sie keine anderen Möglichkeiten haben, ihre Unzufriedenheit zu äußern. Aber auch aus einem bestimmten Pflichtbewußtsein“, so Ivanji. Gerade an den ersten Protesten im Dezember beteiligten sich vor allem jene, die schon im Jahr 2000 das Regime durch Massenkundgebungen zu Fall brachten. „Keiner von meinen Freunden hat Lust, bei dieser Kälte stundenlang spazieren zu gehen. Einer hat Rückenschmerzen, der andere Knieprobleme. Aber dennoch tun sie es. Das geht soweit, dass jemand sagt, ‚Sorry, ich muss dieses Wochenende ausnahmsweise weg, es tut mir so leid, euch im Stich zu lassen.‘ So ist das.“ Mittlerweile sind alle Genereationen, die unterschiedlichsten Gruppierungen und Organisationen auf der Straße vertreten.

Den Startpunkt der Spaziergänge, wie viele die friedlichen Kundgebungen nennen, bildet jeden Samstag Abend das Plateau vor der Philosophischen Fakultät im Stadtzentrum.

Corax: Zeichnen gegen Totalitarismus

Gerade sind in den Gängen des Universitätsgebäudes Zeichnungen des legendären Karikaturisten Predrag Koraksić Corax ausgestellt. Seit den 1950er Jahren ist seine messerscharfe Feder ein Stachel im Fleisch der Herrschenden. Er hat Tito ebensowenig verschont wie Milošević und seine diversen Nachfolger. Nun zieht er Tag für Tag und Strich für Strich unbeirrt gegen Vučić ins karikaturistische Feld. Und nicht selten wird dieses tatsächlich zum kulturellen Kriegsschauplatz.

Inzwischen hat sich bereits eine bunte Menschenmenge auf und vor dem Plateau versammelt. Noch immer ist jene Generation, die bereits 2000 und früher für demokratische Rechte kämpfte, sehr präsent. Doch auch Mütter und Väter mit kleinen Kindern sind dabei. „Diese Leute waren in den 1990ern selbst Kinder, heute bringen sie ihre Babies mit zu den Protesten. Das ist einerseits unglaublich, andererseits auch furchtbar“, findet Nina.

„Es ist ein Teufelskreis. Und bevor sich das System nicht grundlegend ändert, werden wir ihn nicht durchbrechen können.

Sie selbst fühlt dennoch keine große Aufbruchstimmung und ist keineswegs davon überzeugt, alles würde besser werden. „Als es 1996/97 anfing, waren wir viel enthusiastischer. Ich erinnere mich, es begann im November, wir waren drei Monate lang auf der Straße, jeden Tag, voller Energie. Ich bin nur nach Hause gegangen, um die Kleidung zu wechseln, etwas zu essen und mich ein bisschen aufzuwärmen. Dann war ich wieder draußen.“

Vor dem Plateau hat sich inzwischen der Demo-Wagen in Stellung gebracht, gleich werden die Auftakt-Reden beginnen. Bereits jetzt stehen die Menschen dicht gedrängt, ein Meer von Transparenten wogt über ihnen.

Desillusion in der Zeitmaschine

„Wir hatten damals einen gemeinsamen Feind. Da war nur dieser eine Mann und wir kämpften gegen ihn. Nach 2000 haben sich die Dinge verändert. Heute gehe ich nur zu den Demos, weil ich eine Verpflichtung fühle, da zu sein. Natürlich bin ich gegen den Präsidenten und seine Partei, die dieses Land beherrschen. Aber es reicht nicht, einfach eine Person auszutauschen, wenn das gesamte System bleibt, wie es ist. Ich unterstütze daher auch niemand anderen. Sie haben uns in der Vergangenheit so oft betrogen und ich sehe in der Opposition niemand, für den ich heute die Hand ins Feuer legen würde“, stellt Nina schonungslos fest. „Ich kenne viele von ihnen, die an den Protesten in den 1990ern beteiligt waren, danach politische Karrieren machten und dann die grundlegenden Ziele der Proteste verraten haben. Also demonstriere ich, weil ich persönlich eine Verantwortung empfinde, etwas zu tun. Ich gehe hinaus, weil ich die Notwendigkeit fühle, meine Unterstützung zu zeigen, nicht für eine bestimmte Person, sondern für eine wirkliche Systemänderung.“

„Es ist eigenartig, aber ich gehe hin, weil ich es einfach tun muss. Ich könnte selbst nicht mehr in den Spiegel schauen, wäre ich nicht dabei.“

Gegenüber dem Oppositionsbündnis Savez za Srbiju (Allianz für Serbien, SzS), das hinter den Protesten steht und in dem ein breites Parteienspektrum von links bis rechtsaußen versammelt ist, haben viele ähnliche Vorbehalte. Die Beteiligung der extremen Rechten, allen voran der rechtsradikalen Partei Dveri (Türen) unter Boško Obradović löst heftige Kritik aus und lässt viele auf Distanz gehen. Dementsprechend zurückhaltend ist auch das Auftreten aller Oppositionspolitiker*innen bei den Protesten. Keine Parteiabzeichen, keine Politiker*innen am Podium, so die Übereinkunft. Stattdessen werden Professor*innen, Jurist*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen und viele andere abwechselnd eingeladen, am Podium zu sprechen. Das findet auch Nina in Ordnung. Gleichzeitig befürchtet sie, dass dies nicht so bleibt, falls jemand darauf abzielt, mehr Einfluss auf die Ausrichtung der Proteste zu gewinnen. Nach außen haben einige Studierende rund um die junge Politikwissenschaftlerin Jelena Anasonović die Protestorganisation und ihre Vertretung übernommen, sowie zwei Schauspieler, die Brüder Branislav und Sergej Trifunović. Nina respektiert deren Mut, bleibt aber skeptisch, will ihnen jedoch zugleich eine Chance geben. Sie seufzt. „Vielleicht haben sie ja Erfolg. Ich hoffe es.“

Aber auch unter den Jüngeren herrscht Desillusion und Zweifel. Im Gegensatz zu vielen ihrer Freund*innen hat Ana Vilenica an fast allen der elf Großdemonstrationen teilgenommen. Die junge Mutter ist Kulturwissenschaftlerin, schreibt für den linken Blog Mašina und egagiert sich als Aktivistin bei Za krov nad glavom (Für ein Dach über dem Kopf) gegen Zwangsdelogierungen und Obdachlosigkeit. „Als es begann, fühlte ich mich wie in einer Zeitmaschine oder einem ‚Groundhog Day‘ (eine Anspielung auf den Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, ein Tag, der sich immer und immer wieder wiederholt)“, erinnert sie sich. „Sogar die Musik war dieselbe wie vor 20 Jahren! Dieses Gefühl ist das Ergebnis einer ideologischen Verwirrung, eine Folge der Lügengeschichten, die uns glauben machen, es gäbe keine Alternative zum Kapitalismus. Aber es ist definitv ein anderer historischer Moment. Im Kampf gegen Milošević gab es diesen großen Optmismus, dass Demokratie kommen würde. Das glaubt heute so niemand mehr. Die Politik und die Politiker, die die Proteste anführen, sind Teil einer politischen Option, die ausstirbt, weil sie keine Lösungen anbieten kann“, so ihre harte Kritik. Zu den Kundgebungen geht sie trotzdem. Auch sie erträgt es nicht, nur die kleinste Chance ungenutzt zu lassen.

Inzwischen hat sich der Demonstrationszug in Bewegung gesetzt. Langsam schiebt sich die Menge vom Studentski Trg in Richtung Trg Republike. Der wichtigste Platz der serbischen Hauptstadt ist seit Monaten Großbaustelle. Allzu viel Eile bei der Fertigstellung der Bauarbeiten scheint die Stadtverwaltung nicht zu haben, die Menschenmassen quetschen sich förmlich an den Absperrungen vorbei. Die Trillerpfeifen werden lauter, Wind kommt auf und lässt die Transparente heftig flattern.

Aufbegehren gegen totale Kontrolle

Grund genug für Proteste haben alle. Die Situation im Land hat sich für die große Mehrheit der Bevölkerung kontinuierlich verschlechtert. Das gilt sowohl für die katastrophalen sozialen als auch die demokratiepolitischen Zustände. Der Korruptions-wahrnehmungsindex des Freedomhouse-Reports stufte Serbien, ebenso wie Ungarn, im Jahr 2018 nicht mehr als „frei“, sondern nur noch als „teilweise frei“ ein.

Es ist das erste Mal seit 15 Jahren, dass das Land den Status eines freien Staates verloren hat.

„Er kontrolliert wirklich alles, Parlament, Polizei, Justiz, Finanzen, Geheimdienste, die Betriebe. Er hat die absolute Macht“, bringt Andrej Ivanji die Situation auf den Punkt. Vučićs SNS hat über 730.000 Parteimitglieder. Zum Vergleich: Die CDU als größte deutsche Partei kommt gerade noch auf 425.000. Andrej fügt hinzu: „Es gab früher den Spruch ‚Wer bin ich ohne meine Partei?‘ Die Genialität von Vučić besteht darin, dass seine SNS einerseits wie eine Volksbewegung funktioniert, nicht wie eine staatstragende Partei. Andererseits hat sie diese immense Anzahl an Mitgliern. So kommt die Kontrolle. Das ist sehr gefährlich.“

Unter diesen Bedingungen will Vučić nun vorgezogene Neuwahlen abhalten, es wären bereits die dritten in Folge. „Um die eigenen Reihen zu mobilisieren und von wirklichen Problemen abzulenken“, so Andrej. „Die Maschinerie dieser Partei ist so hierarchisch organisiert wie die Cosa Nostra, von ganz oben bis hinunter zum kleinsten Rädchen, sehr straff, sehr diszipliniert.“ Der Journalist verweist auf die von der SNS inszenierte Großkundgebung anlässlich des Putin-Besuchs in Belgrad Mitte Jänner. Busse voller Menschen hatte man dafür aus dem ganzen Land in die Hauptstadt gekarrt. Buchstäblich „für ein Butterbrot“, aber auch mit Druck. „Es waren sicher über 100.000 Menschen, die standen hier auf der Knez Mihailova stundenlang in der Kälte und haben auf das Kommando gewartet, Richtung Sava-Kathedrale (wo Putin seine öffentliche Ansprache hielt) zu gehen. Das waren arme Menschen, man sah es in den Gesichtern. Zwischen ihnen verteilt waren die SNS-Leute, die verhielten sich wie Unteroffiziere der Hitlerjugend ‚Du da, rechts, links, Abstand halten‘, in diesem Ton, die waren sehr aggressiv“, beschreibt der Journalist seine Beobachtungen. „Vučić hat wirklich eine Armee von Leuten, die er zum Prügeln einsetzen kann. Es sind noch Einzelfälle, aber da sind die kriminellen Banden für die schmutzige Arbeit und auch die Hooligans, die hält er an der Leine und kann sie jederzeit loslassen. Das war ein Vorzeigespiel, auch Richtung Westen. Nach dem Motto: ‚Schaut, was ich machen kann, immer.’“

Vor dem Regierungssitz kommt der Demonstrationszug zu Stehen. „Vučiću napolje“ und „Vučiću lopove“, tönt es, von Trillerpfeifen und Trommeln begleitet – „Vučić, verschwinde!“ und „Vučić, du Dieb!“. Während der gesamten Kundgebung sind immer wieder ohrenbetäubende Rücktrittsaufforderungen zu hören. Rechtsstaat statt Korruption wird gefordert, Demokratie statt Diktatur. Bereits nach der Präsidentschaftswahl 2017 hatte es unter dem Motto „Protiv Diktature“ („Gegen die Diktatur“) Großpoteste gegen Vučićs Amtsantritt und Vorwürfe der Wahlmanipulation gegeben. Seit 2014 hatte er als Ministerpräsident seine Macht enorm ausgebaut, nun setzt er diesen Weg fort.

Die Opposition hat indes angekündigt, mögliche Neuwahlen zu boykottieren, Chancen hat sie unter den herrschenden Verhältnissen ohnehin keine. Stattdessen hat die Allianz für Serbien ein Sporazum sa narodum, ein Abkommen mit dem Volk unterzeichnet. In sieben Punkten verpflichten sich die Mitglieder der Allianz, sich weiter für demokratische Reformen und Medienfreiheit einzusetzen, Parlament und Neuwahlen unter den jetzigen Bedingungen zu boykottieren und stattdessen für ein Jahr eine Art Übergangsregierung aus unabhängigen Expert*innen zu bilden, um danach unter gerechten Bedingungen wählen zu lassen. Der Parlamentsboykott hat bereits begonnen, am Montag erschienen zahlreiche Oppositionspolitiker*innen nicht zur Sondersitzung, auch unabhängige Parlamentarier*innen schlossen sich dem Boykott an.

Ana ist skeptisch. „Politik zu machen ohne politisch zu sein, wie soll das gehen?“ Sie zweifelt auch an der Möglichkeit tatsächlicher Unabhängigkeit der Expert*innen innerhalb der herrschenden Strukturen. Dass die Allianz sich als einzige Alternative zu Vučić präsentiert, stößt ihr ebenfalls sauer auf. „Immer heißt es, entweder ihr seid für uns oder ihr seid für Vučić. So geht das nicht, das ist wirklich ein Problem.” Aber den Wahlboykott hält sie für eine kluge Entscheidung, denn „unter diesen Bedingungen hätte sowieso niemand auch nur die geringste Chance.“ Besonders perfide sei der Druck, der durch die herrschende Wohnpolitik auf Wähler*innen ausgeübt werde. Ana, die sich seit Jahren in dem Feld sowohl wissenschaftlich als auch als Aktivistin engagiert, kennt die Entwicklungen genau.

Die radikale Privatisierung des sozialen Wohnbaus hat Strukturen geschaffen, in denen Menschen erst in Schulden gestürzt werden, um sie dann leicht erpressbar zu machen.

Ana weiss von unzähligen Fälle, in denen Bewohner*innen gedrängt wurden, für die SNS zu stimmen, wenn sie ihre Sozialwohnungen behalten wollen. „Es ist wirklich ein Horror, wie dieses System funktioniert.“

Vučić fährt indes seine Propagandamaschinerie noch einen Gang höher und begibt sich schon mal auf eine Art Wahlkampftour. Unter dem Motto Budućnost Srbije (Die Zukunft Serbiens) will er durchs Land reisen, um „mit den Menschen zu reden und zu hören, was sie zu sagen haben.“

Propaganda rund um die Uhr

Kritik und freie Meinungsäußerung meint er damit allerdings nicht. Auf der internationalen Rangliste der Pressefreiheit ist Serbien 2018 eines jener Länder, die am drastischsten zurückgefallen sind, um 10 Plätze auf Position 76 von 180. Journalist Andrej Ivanji kann das nur bestätigen.

„Die Propaganda läuft absolut täglich, rund um die Uhr. Sie besteht hauptsächlich aus Rufmord, Xenophobie, Feindbildern, das ist alles sehr systematisch.“

„Wenn immer jemand sich ein bisschen erhebt, startet sofort die Artillerie und derjenige wird als Krimineller, Sadomasochist, Kinderschänder gebrandmarkt. Ich übertreibe nicht, das ist der Wortschatz, den sie verwenden. Der Präsident der Republik Serbien erwähnt niemals einen oppositionellen Politiker, ohne diesen einen Kriminellen, Dieb, Faschisten zu nennen. Immer sind sie es, die doch nur deshalb wieder an die Macht kommen wollen, um Serbien weiter auszuplündern und davon werden sie natürlich nur vom braven, guten Präsidenten und seinen SNS-Leuten abgehalten. Das lesen und hören die Leute rund um die Uhr, jede volle Stunde, jeden Tag.“

Aber die Menschen sind es leid, sie können die Tiraden und Diffamierungen nicht mehr ertragen. „Warum lügt ihr uns an?“ und „Wir lassen uns nicht mehr für dumm verkaufen“, ist auf vielen der Transparenten zu lesen. Medienfreiheit zählt von Anfang an zu den Hauptforderungen der Protestierenden.

„Es ist die Propaganda der wirklich gleichgeschaltenen Medien. Die Reichweite der Regierungssender und -zeitungen beträgt weit über 80 Prozent, die der kritischen Medien maximal 20 Prozent. Das ist sehr, sehr gering“, so Andrej. An unabhängigen Medien gibt es lediglich ein paar Wochenmagazine wie Vreme und NIN, die Tageszeitung Danas und einen Kabelfernsehsender N1 sowie einige Zeitschriften. „Die gesamte Auflage aller Magazine in Serbien zusammen beträgt höchstens 20.000 Stück“, schätzt er. „Und für die breite Masse sind Magazine und Kabelfernsehen zu teuer.“ Online schreiben noch eine Reihe von kritischen Portalen wie Peščanik und Mašina gegen die Einheitspropaganda an, aber auch ihr Einfluss ist begrenzt. „Die Leute aus der Opposition kommen nirgendwo wirklich zu Wort, außer in diesem beschränkten Kreis von Medien.“

Auf seinem Weg durch die Belgrader Innenstadt passiert der Demonstrationszug folglich jedesmal den Sitz des staatlichen Fernsehsenders RTS und zieht von dort zum markanten Politika-Gebäude des einflussreichsten regierungstreuen Printmedienunternehmens. Politika ist die älteste serbische Tageszeitung und befindet sich zur Hälfte im Staatsbesitz, die restlichen Anteile hielt bis 2012 der deutsche WAZ-Medienkonzern, der diese dann an die russische East Media Group verkaufte. Wer hinter diesem Konsortium steht, ist bis heute unklar.

Die „Medienroute“ wird die Strecke genannt und auch daran hat sich seit den Protesten gegen Milošević nichts geändert.

Vom verhassten Staatssender und den regimetreuen Printmedien werden die Proteste entweder totgeschwiegen, lächerlich gemacht oder mit wüsten Verurteilungen überzogen.

Das gilt auch für die Nachrichtensendungen des öffentlichen Rundfunks. Fünf Minuten zur Hauptsendezeit sprechen zu dürfen, haben die Demonstrant*innen immer wieder gefordert. Erfolglos. Und so ertönt auch diesmal der lautstarke Ruf „RTS nije tvoje vlasništvo Aleksandre Vučiću!“ („Der RTS gehört nicht dir, Vučić!”)

Nina ist auf die Propaganda besonders wütend. „Das ist das Schlimmste, diese ganze Maschinerie, die die Regierung aufgebaut hat, aus Medien, Presse, Social Networks.

„Es gibt nichts, absolut nichts, was du hörst oder liest, das du glauben kannst.“

Sie hat ihr eigenes System von Factchecking entwickelt, ein bis ins letzte Detail austariertes Filtersystem, um der Wahrheit in dem Sumpf aus Manipulation und Fehlinformationen so nahe wie möglich zu kommen. „Ich folge den Entwicklungen vor allem auf Twitter, dort erfährt man über Politik derzeit am meisten. Mit diversen Filtern lässt sich dann durch Checks und Gegenchecks erschließen, ob es sich bei einer Meldung um eine seriöse Information oder bloß Fakenews handelt.“ Damit gehört sie freilich zu einer kleinen intellektuellen Minderheit, ihr Vorgehen braucht Wissen, Zeit und Erfahrung, die viele schlicht nicht haben. Und es kostet Kraft. „Du kannst rein gar nichts glauben, denn womöglich stellt es sich schon in der nächsten Stunde als falsch und genau gegenteilig heraus. Das ist enorm kräftezehrend und zermürbend.“

Lebensgefährliche Wahrheit

Für Journalist*innen wiederum ist die Lage wirklich gefährlich. Wer nicht bereit ist, sich der Zensur zu unterwerfen und kritisch über den Präsidenten und sein Machtgefüge berichtet, riskieren nicht nur, seinen/ihren Job zu verlieren.

Drohungen, Übergriffe und Verfolgung von regimekritischen Reporter*innen stehen in Serbien auf der Tagesordnung. Regierungsmitglieder stellen Kritiker*innen öffentlich und namentlich an den Pranger, bezeichnen sie als Staatsfeinde und ausländische Agenten und setzen sie einem enormen Sicherheitsrisiko aus. Journalist*innenverbände nennen die Situation dramatisch.

Dafür ist die Hetze, die über die regierungstreuen Rundfunkanstalten verbreitet wird, zu einem großen Teil verantwortlich. Entsprechend werden auf der Demo große Aufkleber mit den verschmelzenden Konterfeis der Chefs des Staatssenders RTS und des Privatsenders Pink, Dragan Bujošević und Željko Mitrović, verteilt. In Windeseile sind unzählige an den Fassaden, Verkehrsschildern, Plakatwänden und sonstigen gut sichtbaren Flächen auf dem Weg zu finden und ziehen sich wie eine Spur des Protests durch die Stadt.

Besonders ein Fall hat dazu beigetragen, dass die Menschen immer vehementer nach einem Ende dieser Hetze verlangen. Nur einen Monat nach dem Angriff auf Borko Stefanović wurde am 12. Dezember 2018 ein Anschlag auf den Investigativjournalisten Milan Jovanović der unabhängigen Website Žig Info verübt. Um halbvier Uhr morgens ließ ein Molotow-Cocktail sein Haus in Flammen aufgehen, es fielen Schüsse, er und seine Frau konnten gerade noch durch ein Fenster auf der Rückseite entkommen. „Es ist das dritte Mal, dass sie mich töten wollen“, sagt der 70-jährige Belgrader Reporter, der über lokale Korruption und Verbindungen von Politik und Mafia recherchiert. „Heute gibt es keine Pressefreiheit in Serbien.“ Aber: „Ich werde nicht aufhören, über diese Diebe und diesen Mob zu schreiben, selbst wenn sie mich dafür umbringen.“ Nach dem Anschlag haben sich die Proteste noch verstärkt, die transparente Untersuchung und Festnahme der Hintermänner wurde zu einer zentralen Forderung.

Letzte Woche schließlich erhielt der unabhängige Fernsehsender N1 massive Anschlagsdrohungen wegen seiner anhaltenden Berichterstattung über die Proteste – man werde das Sendergebäude sprengen.

Auch Todesdrohungen gegen Journalist*innen des Senders gingen ein. Immer wieder hatten zuvor Vučić und andere SNS-Vertreter*innen N1 verbal angegriffen.

Wie ein Hohn erscheinen dann auch Aussagen des Präsidenten, Journalist*innen schützen zu wollen. Die Festnahme eines SNS-Funktionärs, der hinter dem Brandanschlag auf das Haus von Jovanović stehen soll, wird folglich überaus kritisch beäugt.

„Es hört nie auf“, schüttelt Nina den Kopf. Ihre Mutter war vor ihrer Pensionierung selbst Journalistin, sie hatte einst beim staatlichen Fernsehen gearbetet und ihren Job verloren, weil sie sich weigerte, in die Partei von Milošević einzutreten. Für ihre Kündigung hat sie den Sender verklagt, man bot ihr Entschädigungszahlungen, aber keinen Job. Dafür hagelte es Drohungen gegen sie und ihre Familie. „Wir haben überlebt“, so Nina.

Zu oft hat man gesehen, dass Angriffe konsequenzenlos bleiben, zu oft wurden bestenfalls Bauernopfer geschasst oder dieselben Leute sind nach kürzester Zeit an anderen Stellen im System wieder in hohe Positionen gelangt. Ähnlich kritisch blickt sie folglich auf die Vorkommnisse rund um den SNS-Funktionär und CEO der Corridors Autobahngesellschaft Zoran Babić, dessen Fahrer vor kurzem einen Unfall verursachte, bei dem eine Frau getötet wurde. Er trat zurück, es wurde ihm als noble Geste ausgelegt, über die Tote aber hat kaum jemand ein Wort verloren. „Ich glaube es nicht“, sagt Nina. „Auch wenn Vučić einige minimale Veränderungen vornimmt und ein paar unwichtige Leute absetzt, bin ich überzeugt, es ist nur eine Strategie, sich einmal mehr als rechtschaffen zu verkaufen und weiter an der Macht zu bleiben.“

Schweigende EU

Als besonders zynischer Affront wurde von serbischen Journalist*innen der Auftritt von Vučić beim Weltwirtschaftsforum in Davos aufgenommen, wo er ausgerechnet am Panel über Pressefreiheit Seite an Seite mit renommierten Vertreter*innen von Medien und Menschenrrechtsorganisationen wie Washington Post, Reuters sowie Amnesty International eine Rede hielt. Der Programmdirektor von N1, Jugoslav Ćosić schäumte: „Er tut so, als hätte er gerade erst herausgefunden, dass etwas in Sachen Medienfreiheit in Serbien nicht stimmt. Dabei ist es genau anders herum, er selbst hat all die Probleme verursacht.“

Die Demonstrant*innen verkleiden derweil einmal mehr den Politika-Eingang mit meterweise Absperrbändern, auf denen „cenzurisano“ („zensiert“) gedruckt ist, in Endlosschleifen.

Von Seiten der EU kommt wenig Kritik an Vučić.

Allen in Belgrad scheint klar zu sein, dass man in Brüssel hofft, er würde die Kosovo-Frage lösen und ihn deshalb unterstützt. Seit Jahren bemüht sich Serbien um die EU-Mitgliedschaft und der Eiertanz um den Verlauf der Schengengrenzen geht weiter. „Serbien erlebt seit langer Zeit diese Form des Kolonialismus durch die EU in seiner periphären Lage. Sie behandeln es wie ihre Außengrenze, an der natürlich Migration gemanagt werden soll, früher wie heute. Wahrscheinlich werden sie Vučić so lange hofieren, so lange sie ihn für ihre Interessen brauchen”, meint Ana Vilenica.

Die Hoffnungen auf Brüssel scheinen dahin. “Sie haben uns jahrelang hingehalten. Warum sagen sie dann Vučić jetzt nicht wenigstens, wir stoppen die Verhandlungen, wenn Sie so mit ihren Bürger*innen umgehen?”, so der Mitorganisator der Proteste, Branislav Trifunović. “Immer fragen sie, mit wem sie sonst reden sollen”, meint wiederum Andrej Ivanji genervt “aber sie tun auch nichts, um eine Veränderung zu ermöglichen.” Er würde es begrüßen, wenn die Union Geld in freie Medien investiert, um so einen ersten Schritt zu setzen ein demokratisches Korrektiv zu schaffen. Aber auf die Idee scheint in Brüssel keiner kommen zu wollen. Und auch zu den Protesten wird von Europa weitestgehend geschwiegen.

Stillstand wurde dieser Tage auch im Zugverkehr angekündigt, wegen Bauarbeiten wird die ohnehin mehr als mangelhafte Bahnverbindung zwischen Belgrad und Novi Sad, den beiden größten Städten des Landes, ab Februar bis mindestens 2020 eingestellt. Weder alternative Übergangslösungen, noch detaillierte Pläne werden bekannt gegeben, die Bevölkerung nur ein paar Tage vorab informiert. Höhere Kosten, mehr Straßenverkehr, tägliche Mehrbelastungen für Mensch und Umwelt sind vorprogrammiert. Die Dunstglocke verdichtet sich. Ein bisschen heller wird sie oben am Kalemegdan, der alten Belgrader Festung. Von dort aus schweift der Blick nicht zur über den Zusammenfluss von Donau und Save und die riesige klaffende Wunde von Belgrad am Wasser, sondern es finden sich auch eine Reihe von PR-Tafeln installiert. Die eine Serie präsentiert in schillernden Bildern die Leistungen von Russian Railways sowie deren Investitionen in den Ausbau und die Modernisierung des serbischen Bahnnetzes. Dazu zählen ein Tunnelprojekt, ein Viaduktbau und demnächst eine Hochgeschwindigkeitsverbindung nach Novi Sad. Ein Stück weiter findet sich eine zweite Schilderreihe, ausgestattet mit bunten Comic-Zeichnungen. Sie bewirbt die Deutsche Zusammenarbeit im Rahmen der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung.

Die Panorama-Landschaft der Proteste

So einheitlich straff sich Vučić und seine Parteigänger*innen präsentieren, so sehr bilden die Proteste gegen ihn die vielfältige gesellschaftliche und politische Landschaft Serbiens ab. Und vielleicht liegt genau darin ihre Stärke. „Klar, es ist ein Sammelplatz für jene, die nicht auf die Propaganda reinfallen. Das ist zunächst mal eine gebildete Mittelschicht“, meint Andrej. So sieht es auch Nina, denn wer sonst solle denn protestieren, wenn nicht die, die wenigstens noch über diese inhaltlichen und strukturellen Ressourcen verfügen? Auch das sei in den 1990ern nicht anders gewesen, mit Drohungen und Druck vom Regime gegen ihre Familie ist sie schließlich aufgewachsen. Mut müsse man vorleben.

Die Proteste sind vielfältig geworden, alle Generationen und viele Positionen überspannend.

Dass der Mut wächst, kann man Samstag für Samstag in den Straßen Belgrads und anderen Städten sehen und spüren. Ana Vilenica schaut sich die unterschiedlichen Teilnehmer*innen genau an. „Es sind ganz verschiedene Blocks und Gruppen dabei. Es gibt den Linken Block, in dem sich wiederum unterschiedliche Gruppierungen und Organisationen versammeln. Dann ist da der Bürger*innen-Block, mit dem all die mitgehen, die rund um Ne davimo Beograd (Lassen wir Belgrad nicht ertrinken), engagiert sind.“ Die Initiative ist aus den Protesten gegen das Mega-Bauprojekt Beograd na vodi entstanden, dann 2018 bei den Belgrader Kommunalwahlen angetreten und versucht, ähnlich wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien oder Movimento5Stelle in Italien von der Bewegung zur Partei zu werden. Zu schnell, wie Ana findet, „sie setzen den zweiten Schritt vor den ersten.“ Aber sie sieht auch tiefgreifendere Unterschiede der lokalen Ambitionen zu den internationalen Entwicklungen: „Hatten schon all diese urbanen Bewegungen das Problem fehlender politischer Klarheit, so entstand dabei zumindest so etwas wie eine Gemeinschaft, Menschen kamen zusammen, organisierten Versammlungen, probierten verschiedene demokratische Abläufe etc. aus. Aber hier haben wir nicht einmal das. Es fehlt einfach an organisierten Graswurzelbewegungen.“ Dann präzisiert sie: „Das hier ist ein öffentlicher Protest, aber keine Bewegung, das muss man unterscheiden. Eine Bewegung würde so etwas wie eine organisierte Struktur bedeuten, Zusammenarbeit und Druck auf jeden, der versucht, darüber die Macht zu gewinnen. Aber so etwas gibt es hier nicht, die Bewegungen sind zu klein und zu schwach und jetzt sind alle darauf konzentriert, Parteien zu bilden.“ Doch es ist wichtig, unter allen Umständen auf der Enteignung der Enteigner zu bestehen. Ohne starke Bewegungen besteht die Gefahr, dabei in die Parlamentarismus-Falle zu tappen.“

Unterschiede ganz anderer Art müssen aber auch innerhalb der Proteste überwunden werden. Mit diesen hatten anfänglich etwa die Leute im LGBTIQ-Block zu kämpfen, der jedesmal Regenbogenfahnen schwenkend mitten in der Menge mitgeht. In Serbien, wo Homophobie von der politischen Rechten wie von pro-russischen Kräften, die ebenfalls unter den Protestierenden sind, täglich geschürt wird, keine Selbstverständlichkeit.

Bei der ersten Kundgebung kam es dann auch tatsächlich zu homophoben Übergriffen. Diese wurden umgehend von den Protest-Organisator*innen verurteilt. „Jetzt werden sie jedesmal von einer eigenen kleinen Einheit von extra abgestellten Sicherheitsleuten, Polizisten in Zivil, begleitet“, grinst Ana.

„Diese Art von Dynamik beobachte ich. Wie die unterschiedlichen Blocks organisiert sind, wie die Interaktionen ablaufen, sagt viel über die gegenwärtigen politischen Gegensätze und deren Normalisierung aus.“

Eines vereint sie bei aller Polarität: Sie haben genug von einem autokratischen Herrscher, dessen absolute Macht jede*r tagtäglich zu spüren bekommt. Diese Erfahrung verbindet, manchmal nur sie. Aber gemeinsam dagegen aufzubegehren, lässt mitunter Allianzen entstehen und manchmal auch Gräben überwinden. Zwischen Zweckbündnis und Vertrauen liegen freilich immer noch Welten, aber jeder Schritt auf dem Belgrader Pflaster bedeutet Veränderung, vielleicht nur für einen Moment, vielleicht nur für den, der sie setzt, vielleicht aber für eine ganze Gesellschaft.

So ist um den linken Block eine Rangelei mit den zivilen Securities entstanden, die die Proteste, wie übrigens auch in Österreich die Donnerstagsdemos, in gelben Warnwesten begleiten. Sie sind keine Polizist*innen, sondern Zivilbürger*innen, die einfach für einen reibungslosen Ablauf sorgen sollen und hier redari genannt werden. Doch diesmal versuchen sie, den linken Block mit seinen antikapitalistischen Transparenten daran zu hindern, sich dem Protest anzuschließen. „Klar“, meint Ana, „sie wollen das Bild vom möglichst unpolitischen Protest neutraler Bürger*innen aufrecht erhalten, der nirgendwo aneckt. Natürlich geht es dabei um das öffentliche Image. Aber eben auch um die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Status Quo.“ Aufsehen erregt, doch auch viel Zustimmung geerntet hatte schon davor eines ihrer Transparente, das STOP krvavim radničkim odelima forderte, STOPP den blutigen Arbeitsanzügen, und auf tödliche Unfälle von Arbeitern aufgrund von Sicherheitsmängeln beim Bau von Beograd am Wasser verweist. Die Referenz zum STOPP den blutigen Hemden-Slogan ist offenkundig.

Auch, dass bei den ersten Protesten der Schauspielerin Mirjana Karanović und dem Basketball-Trainer Duško Vujošević vom oppositionellen Partizan-Klub verweigert wurde, am Podium zu sprechen, hat bei vielen die Alarmglocken schrillen lassen. Der Vorwurf, „anti-serbisch“ zu agieren, stammt aus dem nationalistischen Arsenal der Herrschenden, aber auch und besonders die extreme Rechte, die ja ebenfalls unter den Oppositionellen ist, bedient sich dieser verbalen Waffe gegen Kritiker*innen. Unpolitisch ist dieser Protest also keineswegs. Rebellion ohne Politisierung bleibt eine Illusion. Der große rote Banner, auf dem „Dole Vučić! Dole Kapitalizam!” (“Nieder mit Vučić! Nieder mit dem Kapitalismus!“) steht, leuchtet am nächsten Samstag jedenfalls wieder aus der Menge.

„Es gibt auch noch andere, kleinere Gruppen“, fährt Ana fort. „Zum Beispiel sind die Angestellten der Post jedesmal dabei. Manchmal gehen sie mit den Linken mit, manchmal im Bürger*innenblock und manchmal bilden sie ihren eigenen. So sieht man, wie durch die physische Präsenz im öffentlichen Raum Verbindungen entstehen. Das sagt sehr viel aus. Wir können in diesen Protesten eine Menge darüber lesen, wie Dinge in der serbischen Gesellschaft funktionieren, und sie zeigen auch den Grad der Organisation.“

Die allwöchentlichen Demonstrationen sind nicht einfach aus dem Nichts entstanden und es sind längst nicht die ersten.

Schon in früheren Jahren gab es zahlreiche selbst-organisierte Proteste gegen die radikalen Privatisierungen, gegen die Demolierung des Savamala-Viertels im Zuge der Bauarbeiten zu Belgrad am Wasser, gegen Delogierungen, für Frauenrechte und nicht zuletzt gegen die Anerkennung von Vučićs Wahlsieg nach den Präsidentschaftswahlen 2017.

Die Vielzahl dieser Proteste unterschiedlicher Größenordnungen haben dazu beigetragen, trotz der gleichgeschaltenen medialen Öffentlichkeit ein Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit zu schaffen und die Menschen zu ermutigen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Jetzt werden viele dieser Initiativen noch stärker sichtbar.

„Das ist natürlich gut so. Aber das Problem ist, dass das langsam auch die Boulevardmedien merken und sich auf sie stürzen“, so Ana, und setzt nach: „Es ist eine Kontrolle antikapitalistischer Alternativen mit anderen Mitteln.“

Auf dem Protest sind unzählige unterschiedliche Transparente zu sehen. „Water is universal human right“ steht da etwa, ein Schild, das sich auf den Widerstand gegen eine Reihe von Mini-Wasserkraftwerken bezieht, deren Bau die ohnehin minimalen verbliebenen ökologischen Lebensräume zu zerstören droht. Aber auch eine schweigende Gruppe von Frauen geht mit, auf einem ihrer Banner steht „Gde su naša deca?“ („Wo sind unsere Kinder?“). Sie fordern seit Jahren Aufklärung für das ungelöste Verschwinden von Babies nach der Geburt. Auf einer weißen Flagge steht in schnörkellosen schwarzen Lettern schlicht „Zbog Slobode“ („Für die Freiheit“). Sie wird von Studierenden der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Belgrader Universität getragen, die die Proteste unterstützen und davor schon fünfeinhalb Kilometer zum Treffpunkt am Plateau durch die Stadt marschiert sind. Auch einige Teilnehmer*innen mit Mundschutz und Atemmasken sind heute dabei. Sie sehen so aus wie die Menschen in den chinesischen Industriestädten unter den giftigen, gelben Dunstglocken, deren toxischen Gehalt die Belgrader Luftwerte dieser Tage noch überschreiten.

Der Himmel wird an diesem Abend allerdings zumindest für kurze Zeit in Rot getaucht, wenn Fackeln am RTS-Gebäude hinter einem riesigen Transparent aufleuchten, auf dem einer der Hauptslogans der Proteste zu lesen ist: #PočeloJe! (Es hat begonnen!).


#Počelo Je! Es hat begonnen!

Auch online organisiert sich der Widerstand zusehends. Auf vielen Transparenten sind die Schriftzüge als Hashtags formuliert, selbst auf dem großen Banner vorneweg: #1od5miliona. Doch Beschimpfung, Verfolgung und Drohungen werden ebenfalls via Social Media übermittelt.

„Es reicht nicht, seinen Unmut mit ein paar Likes und Postings zum Ausdruck zu bringen. Damit sind wir alle viel zu sehr beschäftigt“, so Nina. „Sicher, es ist ein nützliches Tool und es ist wichtig, diesen Hype zu generieren, damit die Leute dran bleiben. Es darf uns aber nicht davon abhalten, selber rauszugehen.“

Vor kurzem hat die Organisatorin Jelena Anasonovič ein Video gepostet, das zeigt, wie sie von einem Mann, der sein Gesicht hartnäckig verbirgt, verfolgt wird. Als ihre Begleiter sie abschirmen, filmen und versuchen, unter die Kapuze zu zoomen, macht er kehrt und steigt in ein dunkles Auto ohne vordere Nummerntafel. Zwei Verkehrspolizisten ganz in der Nähe hätten nicht reagiert, schreibt sie. Auch Vladimir Petkovič, der die Proteste stets trommelnd vorneweg begleitet und für das lokale Nachrichtenportal Glas Zaječara arbeitet, wurde auf der Straße bedroht und angegriffen, auch er filmte den Vorfall. Diese Woche hat schließlich der Oppositionspolitiker Balša Božović von wiederhoten Morddrohungen via Twitter berichtet.

Wer bei den Protesten konsequent nicht vertreten ist, ist uniformierte Polizei.

Während etwa die österreichischen Donnerstagsdemos von zwar zurückhaltenden, aber dennoch präsenten Polizeieinheiten begleitet werden und in Ungarn und anderen Ländern die Exekutive mitunter brutal gegen die Protestierenden vorgeht, ist in Belgrad kein*e einzige*r Polizist*in zu sehen. „Eine strategische Entscheidung“, ist Andrej Ivanji sicher. Das meint auch Ana Vilenica.

„Sie wollen das Bild eines freien, demokratischen Staates vermitteln.“

Und sie fügt hinzu: „Aber es sind jede Menge Polizist*innen in Zivil dabei. Und sie haben uns sowieso alle im Register.“ Nina Todorovič wiederum zuckt nur die Schultern. „Ich habe keine Angst vor der Polizei. Das hatten wir alles schon 1996/97 und 2000. Damals war auch Militär da, sie haben Jagd auf uns gemacht. Schüsse, Tränengas, das volle Programm. Irgendwie haben wir es geschafft, zu überleben.“ Wieder und wieder.

Update:

Seit 16. März 2019 hat sich das Bild verändert. Diesmal stürmen Protestierende das RTS-Gebäude – unter ihnen der Vorsitzende der Allianz für Serbien Dragan Đjilas sowie Boško Obradović von der rechtsextremen Oppositionspartei Dveri. Sie fordern, die Protestorgansiator*innen endlich live auf Sendung sprechen zu lassen. Dies wird ihnen verweigert, stattdessen räumt ein Großaufgebot der riot police, also einer Sonderpolizeieinheit, das Gebäude gegen 22.30 Uhr. Innenminister Nebojša Stefanović drohte allen, die die TV-Station „illegal“ betreten haben, mit Strafverfolgung und erklärt, das Vorgehen der Polizei sei gewaltfrei und ausschließlich im legalen Rahmen erfolgt. Doch zahlreiche Protestierende werden bei der Räumung verletzt, das mitunter brutale Vorgehen der Polizei ist auf diversen via Social Media verbreiteten Videoaufnahmen zu sehen. 18 Protestierende wurden verhaftet. Live vor Ort berichtet nur der Kabelsender N1.

Präsident Vučić kündigt für Mittag des Folgetages ein Statement an. Es ist Obradović, der zu Protesten vor dem Präsidentensitz aufruft – „bis zu seinem Rücktritt“, so dann die Organisator*innen. Während dieser Proteste kommt es zu Zusammenstößen mit der Sonderpolizei. Erstmals setzt diese Tränengas gegen die Menschen ein.

Viele befürchten nun, dass es die faschistische Dveri ist, die von der Situation am meisten profitiert – und dass es einmal mehr keine kurze Übergangsphase werden könnte, sondern die Lage im Land sich einmal mehr massiv verschlechtert.

Von der Hauptstadt übers ganze Land – „Das Risiko in den kleinen Städten ist enorm“

Es ist hell in der Stadt, an allen Ecken leuchtet und strahlt etwas. „Das ist wie Make-up für eine Leiche“, ärgert sich Nina und meint die grellbunte Weihnachtsbeleuchtung, die auch Anfang Februar noch über den Köpfen der Demonstrant*innen die Belgrader Innenstadt in gleißendes Licht taucht. Diese Erleuchtung kostet die Steuerzahler*innen sage und schreibe 340 Millionen Dinar, rund 2,88 Millionen Euro – in einem Land, in dem das offizielle Durchschnittsgehalt 375 Euro/Monat beträgt. Aber 85 Prozent der Bevölkerung verdient sowieso noch weniger. Gleichzeitig sind die Straßen von Schlaglöchern und anderen Schäden durchzogen, und immer wieder bricht gerade im Winter der öffentliche Verkehr zusammen, weil es an Busfahrer*innen fehlt. Kritiker*innen haben berechnet: 638 Fahrer*innen könnte man allein um das Geld, das die Stadtverwaltung für diese Weihnachtsdekoration, die an vielen Stellen in den serbischen Nationalfarben blau, weiß, rot gehalten ist, ausgegeben hat, beschäftigen. Aber auch der Schnee türmt sich in den Straßen. Mit den spärlichen Räumungen wird konseequent nach Ende der Demonstrationen begonnen. Aber die Machthabenden geben vor, keinen Grund zur Beschwerde zu erkennen. Ana macht das wütend.

„Sie tun ja immer so, als hätten wir dieses enorme Wachstum und das goldene Zeitalter Serbiens stünde unmittelbar bevor“, schüttelt sie den Kopf. „Dieser ganze nationalistische Fake.“

Von Belgrad haben sich die Massenproteste in den letzten Wochen über das ganze Land ausgebreitet. In rund 60 Städten gehen die Leute mittlerweile auf die Straße. Das ist besonders in den kleinen Kommunen bemerkenswert, wo die SNS mitunter alle Strukturen beherrscht und jedes Aufbegehren sofort Konsequenzen nach sich zieht.

Auch zahlreiche Institutionen haben sich offiziell den Protesten angeschlossen, darunter verschiedene Fakultäten und Institute der Belgrader Universitäten, weiters Gewerkschaften und Arbeiter*innenorganisationen, die Post- und Handelsangestellten, aber auch die Militärgewerkschaft.

Unterstützung kommt außerdem von der serbischen Diaspora. So wird es demnächst den zweiten Solidaritätsprotest in Wien geben und bei den Donnerstagsdemos ist ebenfalls eine #1od5miliona-Gruppe dabei.

Angesichts der engen Beziehungen zwischen den Regierungen beider Länder ist es nur logisch, dass sich auch der Protest dagegen grenzüberschreitend organisiert.

Wirklich bemerkenswert ist, dass es letzte Woche bereits zum zweiten Mal Demonstrationen von Serb*innen im Kosovo gab. Diesmal gingen in Gračanica und in der Woche zuvor in Mitrovica Menschen gegen Vučić auf die Straße. Der Konflikt um mögliche neue Grenzziehungen nach ethnischen Kriterien zwischen Serbien und Kosovo, die beharrliche Weigerung Serbiens, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen und die Intransparenz der Verhandlungen, sowohl durch Vučić als auch die EU, lassen die Spannungen in der Region wieder zunehmen. Ebenso treibt der nach wie vor nicht aufgeklärte Mord an Oliver Ivanović die Menschen auf die Straße. Der politische Vertreter der Kosovo-Serb*innen war im Jänner 2018 auf offener Straße erschossen worden. Die Auftraggeber sind immer noch unbekannt, ihreVerhaftung zählt ebenso zu den Forderungen der Protestierenden. Das Sicherheitsrisiko, das sie mit den Kundgebungen auf sich nehmen, ist enorm. Dennoch tun sie es.

Vučić wiederum hat sich vor wenigen Tagen zu seiner PR-Tour in die „Zukunft Serbiens“ aufgemacht. Eine Station wird die kleine Stadt Pančevo in der Vojvodina, nicht weit von Belgrad, sein, wo auch Ana Vilenica lebt. „Pančevo war früher mal sowas wie eine Oppositionsstadt“, erzählt sie „wurde aber total schnell von der SNS übernommen. Sie haben den gesamten öffentlichen Sektor privatisiert und machen aus dem Staat einen Privatkonzern.“

„Sie haben die Firmenleitungen komplett ausgetauscht und zwingen die Leute, in die Partei einzutreten, wenn sie einen Job haben wollen. Mit diesen Menschen können sie dann manipulieren. Aber jetzt reist unser Präsident quer durchs Land, um von den Problemen der Leute zu erfahren.“

Sie lacht bitter. „Das ist so absurd, und all diese Absurdität zeigt sich bis ins kleinste Detail. Den ganzen Winter zum Beispiel, während all der heftigen Schneefälle, wurden auch in Pančevo kaum die Straßen geräumt. Statt das Geld für kommunale Infrastruktur zu verwenden, haben sie es irgendwo anders reingesteckt. Nun schmilzt der Schnee und überall liegt eine Menge Dreck und Unrat herum. Aber jetzt, plötzlich, reinigen sie wie wahnsinnig – denn durch diese Straßen wird schließlich der Präsident gehen!“ Kurz sucht sie nach Worten. Dann sagt sie nur: „Es ist unglaublich lächerlich, aber es passiert tatsächlich.“ Und fügt hinzu: „Diese Art kleiner Demütigungen erleben die Leute im ganzen Land, jeden Tag. Und das ist nur die Spitze dessen, was sie durch Privatisierungen, die Verschiebung von öffentlichen Geldern in die Budgets privater Investoren, die totale Deregulierung der Arbeitnehmer*innen-Gesetze und anderer Sozialgesetze schon angerichtet haben.“

Diesmal haben die Protestierenden persönliche Botschaften an Vučić verfasst, die in durchsichtigen Boxen gesammelt und vor dem Präsidentensitz deponiert wurden. Wer wird sie je lesen?

Die Anarchie ist da. Man sieht, es gibt uns.“  Aber reicht das?

Andrej sieht in den Protesten jetzt schon einen Erfolg. Denn: „Was wirklich peinlich ist für unseren Führer, unseren Volksführer: Er wirkt nicht mehr unantastbar. Auf einmal ist da eine Lücke im System entstanden, und die sieht man mittlerweile, auch international. Es war eine Zerreissprobe zwischen der Geduld des Regimes und der Ausdauer der Demonstranenten.“

Diese Ausdauer hat sich bezahlt gemacht, denn plötzlich sieht dieser unschlagbare Führer schlagbar aus. Das bedeutet schon mental eine Veränderung. Die Demonstrationen haben dazu geführt, dass diese Apathie endlich weg ist, es geschieht etwas. Deshalb sind die Proteste wirklich wichtig, denn sie zeigen, es gibt eine Option.“

„Inzwischen ist es sogar in, zu den Protesten zu gehen – und das ist gefährlich für das Regime.“ Die ersten Folgen: „Auf einmal hat Vučić Probleme, vorgezogene Wahlen auszuschreiben, die Opposition will diese richtigerweise boykottieren, denn unter solchen Umständen hat es keinen Sinn. Mehr als 25, 30 Prozent Unterstützung hat er ja nicht, die Wahlabstinenz ist riesig hier. Kein Wunder, die ganze Propaganda hat den Leuten die Politik richtiggehend verekelt. Aber wenn die Wahlbeteiligung unter 30 Prozent fällt, dann hat er keine Legitimation mehr. Außerdem werden die Proteste, falls er jetzt Wahlen ausschreibt, noch einen extra Schub bekommen. Doch selbst wenn sie irgendwann abflauen – die Anarchie ist da. Man sieht, es gibt uns.“

Nina überlegt. „Okay, wir haben diese friedlichen Spaziergänge. Aber er ist noch immer da. Wir müssen wirklich mehr tun, um dieses System aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wenn die Leute aufhören zur Arbeit zu gehen, würde das vielleicht etwas bewirken. Aber ich weiß, ein Streik braucht Mut und den sehe ich (noch) nicht. Ich liebe dieses Land, aber ich registriere täglich, was hier vor sich geht, das macht es unerträglich. Es ist einfach nötig, die Dinge komplett auf den Kopf zu stellen, sodass wir die Veränderung wirklich sehen und fühlen können.“

Das denkt auch Ana. Aber: „Die Alternative kann nicht sein, dass es einfach ein bisschen weniger schlimm wird als jetzt, wenn die Opposition dann dasselbe neoliberale Programm abspielt wie das Regime. Wir brauchen tiefgreifende strukturelle Veränderungen, etwas wirklich anderes.“

Die Opposition will Parlament und Neuwahlen boykottieren. In welche Richtung geht Serbien?

Andrej würde der Expert*innenregierung eine Chance geben, im Vorgehen der Allianz sieht er eine realistische Möglichkeit – „wenn sie sich dabei tatsächlich an demokratische Grundsätze halten.“ Auch wenn er befürchtet, dass der rechtsextreme Boško Obradović kurzzeitig Einfluss gewinnt, aber Vučić müsse ersmal weg. Nina hingegen hat ernstliche Befürchtungen gegenüber den extremen Rechten. Darin, dass diese möglicherweise an die Macht kommen, liegt für sie eine der größten Gefahren bei der Nachfolge Vučićs. Auch Ana sieht das Abkommen äußerst kritisch. “In Wirklichkeit verschiebt sich die Normalität nach rechts. Eine Expertenregierung ist ein Hoax der Rechten. Die Politik verschiedener Koalitonspartner im SzS unterscheidet sich davon nicht wesentlich.” Und sie setzt nach: “Die sind noch nationalistischer als Vučić, gerade in Bezug auf das Kosovo. So versuchen sie, an Stimmen zu kommen. Ich kann darin wirklich kein emanzipatorisches Potential erkennen.” Sie schüttelt den Kopf. “So gehen wir direkt Richtung Faschismus.”

Die rot-blau-weißen serbischen Nationalflaggen flattern zwischen der bunten Vielzahl von Transparenten, das Motto der Proteste #1od5miliona ist in schwarz-roten Lettern auf weißem Grund gehalten.

Politik als Spektakel

Abseits der Route, vom Trg Savka aus kann man über die Großbaustelle am Wasser blicken. Vor dem alten Bahnhof, den sie gerade für die leeren Hochhaustürme der Belgrade Waterfront entkernt haben, will die Stadt eine 28 Meter hohe Statue von Prinz Stefan Nemanja aus dem 12. Jahrhundert errichten, dem Gründer der gleichnamigen Dynastie und nationale Mythenfigur in Serbien. Die Ausschreibung um den Entwurf hat der russische Künstler Alexander Rukavishnikov gewonnen, der für seine martialischen Heldenstandbilder bekannt ist. „Wir leben in einer Realität des Spektakels, geschaffen von den herrschenden Strukturen. Unser Wirklichkeit ist fiktiver als jede Science-Fiction-Geschichte“, findet Ana.

„Demnächst bekommen wir diese Statue von Stefan Nemanja, um unsere nationale Identität zu bekräftigen. Das Ding sieht aus, als wäre es direkt einem Harry-Potter-Roman entsprungen.“

In der Stellungnahme der Stadt heißt es, man wolle Altes mit Neuem verbinden, die riesige Statue soll buchstäblich die Krönung der „Umgestaltung“ des Savamala-Viertels werden. Diese Umgestaltung hat Zwangsräumungen, nächtliche Abrissaktionen eines ganzen Stadtteils und Milliarden-Kosten beinhaltet – für den Bau von Shoppingmalls und Luxusappartments, die, sollten sie je fertig werden, nur für Multimillionär*innen leistbar sind. „Ich weiss nicht, wie weit wir noch gehen können“, wiederholt sie. „Aber ich bin mir sicher, morgen werde ich einmal mehr überrascht davon sein.“

Life’s a glitch nennt Nina eines ihrer Kunstprojekte aus dichten Bildüberlagerungen, wobei sie „glitch“ als Systemstörung definiert, die sich in kürzester Zeit selbst korrigiert und daher kaum greifbar ist. Sie forscht über Verzerrung und Auflösung von Erinnerung. So wird diese zur Täuschungskategorie. Eine kurzfristige Fehlfunktion in einem Lebenssystem beschert uns demnach oft dauerhafte Folgen. Das gilt für Politik, Kriege, Zerstörung, Demolierung von Städten und kulturellem Erbe, Exil, Migration. Wieviel Angriffsfläche für Manipulation bietet sich da – und wieviel Raum für Widerstand?

Wird aus Spaziergängen ein Marsch für die Freiheit?

Andrej erinnert sich.

„Vor 25 Jahren habe ich geschrieben, die Folgen des Zerfalls des Ostblocks wird man erst in zwei, drei Jahrzehnten zu spüren bekommen. Jetzt ist es soweit. Es ist der absolute Sieg des Kapitalismus.“

„Das große Kapital hat nichts gegen Rechts, absolut nicht. Links bedeutet, dass irgendjemand denen in die Taschen greifen will, Rechts bedeutet – gar nichts. Die Konsumgesellschaft generiert permanent künstliche Bedürfnisse und genauso ist es mit der Politik. Daher ist es ganz logisch, dass die Rechte überall gewonnen hat. Außerdem haben Schröder und Tony Blair die europäische Sozialdemokratie demoliert, und während sich das Kapital global vereint hat, verharren Arbeiter und Gewerkschaften immer noch eingezwängt in ihren lokalen Tarifverträgen. Es gibt keine internationale Solidarität der, wenn du willst, Proletarier, der Arbeiterklasse. Das Kapital arbeitet auf der ganzen Welt zusammen, während alle linken Parteien lokal sind.“

Er dreht den Kopf, deutet in den Raum. „Und hier ist es erst recht logisch. Die ganze Propaganda nach dem Kommunismus, da ging’s nur darum, alles wegzufegen, die Mär vom Neustart. Dazu die Kosovo-Geschichte. Es ist viel einfacher, von Rechtsaußen Feindbilder zu schaffen. Was bedeutet das schon, das Kapital, das ist zu abstrakt, da kann sich niemand etwas drunter vorstellen. Aber die Kroaten, die USA, die Flüchtlinge, das funktioniert sofort, das haben die Rechten drauf.“ Und er fügt noch hinzu: „Die ganze Welt befindet sich an einer historischen Wende, dieser positive Zyklus nach dem Zweiten Weltkrieg hat seinen Höhepunkt erreicht und jetzt geht’s hinunter. Leider dauern diese Zyklen ziemlich lang. Wir haben derzeit eine PR-Politik – das sind doch alles Marketingprodukte, Donald Trump, Macron, Sebastian Kurz, der hat’s im Unterschied zu den anderen sogar noch geschafft, diese ganze Partei an sich zu reissen.“

Auch Nina sinniert: „Die extreme Rechte ist überall. Doch manchmal frage ich mich auch, wie die junge Generation so konservativ sein kann, wo ihre Eltern doch für einen liberalen Aufbruch standen. Aber vielleicht müssen wir tragischerweise akzpetieren, dass es eine Phase ist und die Nachkommenden wieder freier denken und jene Ideen unterstüzten, für die wir gekämpft haben.“ Sie überlegt weiter: „Vučić und seine Leute beschuldigen ständig die Vorgängerregierungen, und natürlich haben sie uns all diesen Mist hinterlassen. Aber er war einer von ihnen! Und sie haben ihn an die Macht kommen lassen! Sie haben sich selbst bereichert, anstatt zu tun, wofür man sie gewählt hatte. Dafür wollten viele sie bestrafen. Aber sie haben dabei nicht an die Konsequenzen gedacht. Das müssen wir nun ausbaden.“

Ana fasst zusammen: „Auf der oppositionellen Seite sind die Allianz für Serbien und ihren Kontrakt, dann Ne davimo Beograd und die „Citizen’s front“, die nach Verhandlungen mit dem SzS ein eigenes Statement herausgegeben haben. Weiters gibt es den Linken Block, der als einziger antikapitalistische Ziele in die Proteste bringt. In nächster Zeit wird es diverse Treffen geben, in denen die verschiedenen Akteure versuchen, Pläne zu erarbeiten, wie es weitergehen soll. Es sind keine einheitlichen Diskussionen, es gibt Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen, die strategische und taktische Fragen betreffen, die Einfluss auf zukünftige Politik haben können.“

„Sie verhandeln alle, aber es gibt keinen Raum, wo die, die ausgebeutet und unterdrückt werden, etwas zu sagen haben. Ich würde gerne öffentliche Versammlungen sehen, wo eine wirklich neue Politik Formen anzunehmen beginnt.“

„Ich bin bisher immer wählen gegangen“, hält Nina fest. „Ich wußte, würde ich es nicht tun, hieße das, mir meine Stimme nehmen zu lassen. Aber wenn sie jetzt beschließen, die Wahlen zu boykottieren, werde ich mich anschließen.“

„Wir haben so lange immer das geringste Übel gewählt, aber das ist nicht die Art von Entscheidung, die man gezwungen sein sollte, sein Leben lang zu treffen. Doch ich weiss nicht, wieviel Zeit noch vergehen muss, bis es soweit ist.“

Auf der Terazije im Herzen der Stadt endet der Protest, nur langsam zerstreuen sich die Leute. Viele bleiben noch stehen, reden, diskutieren oder gehen gemächlich ihrer Wege.

Ein Button-Verkäufer, der den ganzen Protestzug auf Krücken begleitet hat, erhebt die eine gegen Himmel und stützt sich mit der anderen auf den Asphalt. Die Abzeichen mit Sprüchen wie „Vučiću shvati, nécemo stati” (“Vučić, kapier‘ es, wir geben nicht auf”) oder “Zašto nas brojite ako se ne bojite?” (“Warum zählt ihr uns, wenn ihr euch nicht fürchtet?”) klimpern in der Schachtel, die Auslöser der Fotografen klicken. Ein Lachen, ein Schulterklopfen, bis nächsten Samstag.

„Ich sehe, der Widerstand wächst, ich sehe, er breitet sich aus. Aber ich habe das schon so oft gesehen…“ Nina bezeichnet sich selbst als Pessimistin, aber sie ist auch stur, sagt sie. Deshalb, versucht sie, durchzuhalten. „Hier ist alles Politik und hier musst du an allem zweifeln. Du kannst auf nichts und niemanden bauen, nicht auf die grundlegendsten Wahrheiten. Du hinterfragst alles und jeden, es könnte doch wieder Betrug sein. Das ist die Situation, in der wir sind.“

„Nichts hier ist wahr. Das ist frustrierend. Und es verändert dein Denken, dich selbst. Du glaubst niemandem mehr. Du kannst niemandem vertrauen. Das ist das Schlimmste.“

Der Abend geht in die Nacht über, noch immer sind viele, viele Menschen in der Stadt unterwegs. #1od5miliona tragen sie weiter auf Jacken, Hauben, Taschen, manche auf der Haut. Die einzige unabhängige Tageszeitung Danas wird am nächsten Tag titeln „Aus Spaziergängen wird ein Marsch für die Freiheit.“

„Ich möchte wirklich hoffen“, sagt Ana. „Ja, meine Ansagen sind oft ziemlich scharf und klingen alles andere als optimistisch. Aber ich bin in soviele Bewegungen, Organisationen und Kämpfe involviert, ich gebe nicht auf.“ Und sie fügt leiser hinzu: „Um der Zukunft unserer Kinder willen.“

Zum ersten Mal seit Wochen ist es nicht mehr ganz so kalt in Belgrad. Der Schnee ist fast zur Gänze geschmolzen. Verletzbarer, nackter Boden kommt darunter zum Vorschein. Der Košava-Wind, von dem Nina sagt, er mache viele Stadtbewohner*innen verrückt, stürmt diesmal warm durch die Straßen und fegt auch den Staub aus der Luft über der weißen Stadt. Von irgendwo bringt er Frühling. Und in den Bewegungen treffen Energie und Routine und Mut zusammen, das Vertrauen wird am langsamsten wachsen. Wenn es wächst. Aber die Selbstverständlichkeit am Protest wird größer und mit ihr die Ausdauer und die Bereitschaft. Die Straßen sind voller Menschen, am nächsten Samstag sind es mehr als je zuvor.

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Letztes Update: 17.3.2019, 23.00 Uhr

Fotos (c): Evelyn Schalk