DAS JAHR DES WIDERSTANDS

Das Jahr des Widerstands

When governments fall, citizens must act“ 1

Seit Monaten gibt es Massenproteste quer durch Europa. In Paris und anderen französischen Städten gehen die Menschen ebenso auf die Straße wie in Budapest, Belgrad, Tirana und Wien sowie zusehends auch abseits der großen Zentren. Was passiert da gerade? Wieso genau jetzt? Und in welche Richtung entwickeln sich die Proteste, was kommt da noch?

Seit Monaten gibt es Massenproteste quer durch Europa. So individuell die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern auch sein mögen, so verbindet sie inhaltlich eine ganze Menge.

So individuell die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern auch sein mögen, so verbindet sie inhaltlich eine ganze Menge. Sie alle richten sich gegen die radikale Verschlechterung von Lebens- und Arbeitsbedingungen, gegen fortschreitende Entdemokratisierungsprozesse und die Demontage von Grund- und Bürger*innenrechten. Sie wenden sich gegen autoritäre bzw. neoliberale Machthaber und deren mediale Propaganda. Überall, wo aktuell vehement demonstriert wird, dauerte es eine ganze Weile, bis sich die Proteste formierten. Diese stellen also keine Spontanreaktionen auf Wahlausgänge oder einzelne politische Entscheidungen dar, vielmehr waren solche Auslöser oft nur der letzte Tropfen, der das Fass des langen stillschweigenden Hinnehmens zum Überlaufen, sprich Handeln brachte – und zwar anhaltend. Die Intensität und Ausdauer des Widerstandes dürfte viele überrascht haben. Denn die Kundgebungen gehen nach wie vor kontinuierlich weiter – und sie wachsen. Sie sind gekennzeichnet von konstanten und/oder steigenden Teilnehmer*innenzahlen, sowie deren breiter Heterogenität. Sie werden von Menschen aller Altersklassen, verschiedener sozialer und ethnischer Herkünfte sowie unterschiedlicher politischer Ausrichtung getragen. Darin liegt die größte Herausforderung dieser bisweilen schon als „Europäischer Frühling“ gehandelten Demonstrationswelle.

Noch ein Phänomen ist über alle Landesgrenzen hinweg in den Formationen dieser Widerstände zu beobachten: die starke Präsenz von Frauen

Und noch ein Phänomen ist über alle Landesgrenzen hinweg in den Formationen dieser Widerstände zu beobachten: die starke Präsenz von Frauen, sowohl quantitativ als auch in den Organisationsstrukturen und unter den öffentlich sichtbaren Vertreter*innen der Bewegungen.

Die ungarische Opposition hat 2019 zum „Jahr des Widerstands“2 erklärt. Ähnliches ist aus anderen Städten zu vernehmen. Wir wollen wissen, was das bedeutet, wie und warum sich dieser Widerstand manifestiert, wohin er sich entwickelt und welche politischen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen daraus entstehen. Die französischen Protestierenden konnten Macron bereits erste Zugeständnisse abringen, Orbán in Ungarn hingegen weigert sich ebenso wie Vučić in Serbien beharrlich, seinen Kurs auch nur einen Milimeter zu ändern. In Tirana wiederum versucht Premierminister Edi Rama bis dato erfolglos, die Studierenden vom Protest zu Verhandlungen zu bewegen. Und in Österreich? Da wird über die Verkehrsblockaden durch die Donnerstagsdemos gegrantelt, doch ansonsten ignorieren Kurz & Co die Menschenmengen nach Möglichkeit, die wöchentlich durch Wien und die Landeshauptstädte ziehen. Wie lange sich Massenproteste einfach aussitzen lassen, wie es derzeit Regierende versuchen, wird sich allerdings erst zeigen.

Wie lange sich Massenproteste einfach aussitzen lassen, wie es derzeit Regierende versuchen, wird sich erst zeigen.

tatsachen.at will die Entwicklungen der Proteste langfristig und vielstimmig begleiten und sowohl von den einzelnen Schauplätzen berichten als auch Hintergründe recherchieren und Zusammenhänge veranschaulichen. Dabei gilt es, individuelle Verläufe nachzuzeichnen, aber auch Verbindungslinien zu folgen und herauszufinden, ob über die geographischen und sozialen Grenzen hinweg gemeinsame Aktionsweisen und Solidarisierungsbewegungen entstehen.

Dieser Bericht ist ein work in progress, der nach und nach wachsen und sich verdichten soll.

Dieser Bericht ist ein work in progress, der nach und nach wachsen und sich verdichten soll. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aber als Versuch, nicht nur einmal kurz auf ein Ereignis zu blicken und die Aufmerksamkeit dann wieder der nächsten Schlagzeile zuzuwenden, sondern einen komplexen gesellschaftlichen Prozess dauerhaft zu beobachten, zu verorten und damit Diskurs, Wissen und Verständnis zu generieren. Wir sind gespannt, wohin uns die Reise führt und hoffen, unsere Leser*innen begleiten uns dabei – kritisch, informativ, kommunikativ.

Počelo je lautet einer der Slogans auf den Straßen von Belgrad und der dazupassende Social-Media-Hashtag – Es hat begonnen. Was da beginnt, endet und weitergeht, darüber wird ab sofort hier zu lesen, zu sehen und zu hören sein.

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Foto: AC Colors, Unsplash

1Letter to citizens of the EU from the “periphery”: Politics of the closed borders are bringing us closer to fascist rules

2Als erste hat Anna Donáth von der oppositionellen Momentum-Partei bei der Massendemonstration in Budapest am 21. Dezember das Jahr 2019 zum „Jahr des Widerstandes“ ausgerufen – das Motto wurde von der gesamten Opposition bei der ersten Kundgebung am 5. Jänner 2019 übernommen.