„Es wird auch von der Zivilgesellschaft abhängen“
Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 01
Politikwissenschaftlerin und Aktivistin Monika Mokre im Austausch mit Evelyn Schalk über Privilegien, Solidarität und was diese Krisensituation mit der Gesellschaft, aber auch jedem*r Einzelnen macht.
TATsachen.at: Liebe Monika, wir unterhalten uns online, via Messenger, wie so viele in diesen Tagen. Die Begrüßung „Wie geht’s dir?“ ist von der Floskel zur ernst gemeinten Frage geworden. Daher, zu allererst: Wie geht es dir? Und wo erreiche dich aktuell?
Monika Mokre: Mir geht es eigentlich recht gut. Ich bin zu Hause, wie zur Zeit fast immer, bin da aber in einer recht privilegierten Situation. Ich habe eine hübsche Wohnung mit Balkon, kann problemlos von zu Hause arbeiten, halte Sozialkontakte über diverse Medien aufrecht und beziehe mein volles Gehalt.
Das ist gut zu wissen. Du bist als eloquente Politikwissenschaftlerin bekannt, die Entwicklungen sehr kritisch verfolgt, dazu unumwunden Stellung bezieht und besonders die nicht aus den Augen verliert, die in weniger privilegierten Verhältnissen leben. Aktuell befinden wir uns in einer Situation, wie es sie wohl in dieser Form noch nie zuvor gegeben hat. Was bedeutet das nicht nur auf gesundheitlicher, sondern auf politischer und sozialer Ebene?
Grundlegend bedeutet es, dass die Unterschiede zwischen Menschen sich verschärfen. Die Privilegierten – wie ich – sind noch privilegierter, die Unterprivilegierten noch weniger privilegiert.
Grundlegend bedeutet es, dass die Unterschiede zwischen Menschen sich verschärfen.
Dafür gibt es viele Beispiele: Diejenigen, die keine schöne Wohnung haben, sind genauso eingeschlossen wie ich, aber unter sehr verschärften Bedingungen. Absehbar wird familiäre Gewalt steigen. Die sich in erster Linie gegen Frauen richtet. Frauen tragen auch stets die Hauptlast der Erziehung, was durch die Schließung von Kindergärten und Schulen noch verschärft wird. Hier spielt natürlich auch Klasse eine erhebliche Rolle: Je gebildeter die Eltern, desto leichter wird es den Kindern fallen, den Schulstoff auch zu Hause zu lernen. Frauen haben zumeist auch die Pflegeverantwortlichkeit für jetzt besonders gefährdete ältere Verwandte. Frauen sind auch die, die jetzt überwiegend arbeiten müssen und sich damit der Ansteckungsgefahr aussetzen. Wobei sich zur Zeit natürlich unabhängig vom Geschlecht zeigt, welche Berufe systemerhaltend sind und dass gerade diese Berufe weder finanziell noch auch mit sozialem Kapital adäquat entlohnt werden. Eine andere große Gruppe, die noch arbeiten muss, sind Migrant_innen. Die in den Lobes- und Ermutigungsreden der Politiker_innen an die Österreicherinnen und Österreicher noch nicht einmal vorkommen.
Und dann gibt es noch diejenigen, die jetzt völlig vergessen werden: Obdachlose, die eben nicht zu Hause bleiben können. Geflüchtete, die in griechischen Lagern absehbar zu Hauf sterben werden, aber auch in Österreich nicht dezentral untergebracht werden. Illegalisierte Menschen, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Gefängnisinsass_innen, denen jeder Besuch gestrichen wurde, bei denen aber die einfachsten Hygiene- und Distanzierungsmassnahmen nicht umgesetzt werden.
Ah ja, vergessen habe ich noch die vielen, die gerade ihre Arbeit verlieren.
Jetzt fliegt man z.B. die Pflegerinnen aus Rumänien und Bulgarien per Luftbrücke ein, denen man vor einem Jahr noch die Familienbeihilfe gekürzt hat und für Geflüchtete sind und bleiben die Grenzen dicht. Auch all die anderen, über die du sprichst, werden in der Berichterstattung kaum erwähnt. Siehst du Möglichkeiten, daran was zu ändern? Begriffe wie Miteinander, Solidarität und Gemeinsam haben ja wieder Hochkonjunktur, allerdings sind das derzeit eben sehr selektive Ein- bzw. Ausschlusskriterien …
Ja, das ist sehr zwiespältig. Es gibt ja auch wirklich Solidarität, die erstaunlich ist. Wenn Leute für wildfremde andere Leute im Bezirk einkaufen gehen oder so.
Ja, das ist sehr zwiespältig. Es gibt ja auch wirklich Solidarität, die erstaunlich ist.
Aber halt diesen stark nationalen/ nationalistischen Zug darin. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob diese Solidarität halten wird, wenn die Krise noch viel länger geht oder sich verschärft. Ob dann nicht doch jede_r sich selbst der_die nächste ist. Oder halt nur auf die eigene Familie schaut …
Eigentlich ist es widersinnig, dieser nationale Gestus, offensichtlich hält sich ja der Virus nicht an nationale Grenzen. Und z. B. die Quarantäne in Traiskirchen ist völlig widersinnig. Der Virus breitet sich aus, wenn da so viele Menschen sind, und es geht ja doch Personal aus und ein; das wird also übergreifen.
Eigentlich ist es widersinnig, dieser nationale Gestus, offensichtlich hält sich ja der Virus nicht an nationale Grenzen.
Andere Themen, wie etwa die Situation der Geflüchteten, bringt man überhaupt nicht mehr in den Diskurs.
Aber es gibt schon auch international zumindest andere Beispiele, z. B. von Leuten, die sich jetzt speziell um Illegalisierte oder Obdachlose kümmern. Und auch von Regierungsseite: Ich habe gerade begonnen, Beispiele für nicht-repressive Maßnahmen gegen Covid-19 zu sammeln: Hotels für Obdachlose aufmachen, Geflüchtete in Jugendherbergen unterbringen. Gefängnisinsass_innen entlassen.
Das ist wirklich wichtig, diese Beispiele sind immer noch viel zu wenig präsent. Im Gegenzug dazu zeigt sich, dass eben nahezu überall die Krise für die Einführung massiver repressiver Maßnahmen genützt wird, siehe Orbàns Versuch der totalen Machtübernahme in Ungarn, siehe die rigiden Ausgangssperren in Serbien und Bosnien oder die öffentliche Denunziation von Leuten, die sich vermerintlich oder tatsächlich nicht an die neuen Regeln halten. Gleichzeitig entsteht aber, wie du sagst, auch unerwartet viel Solidarität und neue Ideen, diese umzusetzen. Denkst du, gibt es jetzt eine Chance, über diese Krise hinaus grundlegende systematische Veränderungen zu erzielen oder ist es eher das Gegenteil, ein zunehmender Nationalismus hinter geschlossenen Staatsgrenzen, der sich manifestiert? Viele befürchten ja auch eine katastrophale Weltwirtschaftskrise angesichts der anhaltenden Lockdowns …
Ad Traiskirchen: Da gibt es doch Pläne zur Evakuierung?
Ja, die Leute sollen aus Traiskirchen auf andere, derzeit leer stehende Lager verteilt werden, in Leoben z. B. Da gibt es überall Widerstand und die Forderung nach totaler Ausgangssperre. Und diese Lager sind immer noch zu groß, in Leoben sollen etwa 150 Leute untergebracht werden. In Bremen werden Asylwerber_innen hingegen jetzt in Jugendherbergen untergebracht. Und es gibt sicher auch noch kleine Unterkünfte, die leer stehen. Vor einiger Zeit wurde ja Traiskirchen noch einmal mehr gefüllt, weil 120 Leute aus dem Rückkehrzentrum Schwechat hingebracht wurden, damit Schwechat für die Quarantäne von Rückreisenden verwendet werden kann. Völliger Wahnsinn – Traiskirchen war schon vorher überfüllt.
Ansonsten: Weltwirtschaftskrise ist wohl recht wahrscheinlich. Und wie Expert_innen sagen (ich kann das nicht wirklich beurteilen), wird die schlimmer als die letzte, weil China nicht mehr in der Lage ist, das Ruder herumzureißen. Das könnte durchaus eine Chance sein, um ökonomisch und damit auch gesellschaftlich umzudenken. Das scheint gerade nicht sehr wahrscheinlich, wenn es in erster Linie darum geht, Fluglinien und Banken zu retten. Mit einem gezielten Programm ließen sich jetzt aber schon auch ökologischere Entwicklungen fördern, die dem Klimawandel entgegenwirken. Das wird halt auch von der Zivilgesellschaft abhängen, ob und wie sie sich da positioniert.
Jedenfalls denke ich zumindest, dass das Zu-Tode-Sparen des Gesundheitssystem von der Agenda verschwinden wird.
Jedenfalls denke ich zumindest, dass das Zu-Tode-Sparen des Gesundheitssystem von der Agenda verschwinden wird.
Zu Traiskirchen: Ja, der Widerstand in den Gemeinden hat sich ganz schnell artikuliert, da war wenig von Solidarität zu spüren. Portugal geht da z.B. einen ganz anderen Weg und ermöglicht jetzt allen Personen im Asylverfahren vollen Zugang zum Gesundheitssystem, Tests, etc., auch Menschen ohne Papiere. Österreich weigert sich hingegen weiter, Geflüchtete von den griechischen Inseln zu holen. Ganz Europa schaut zu, wie sich die Katastrophe anbahnt. Obwohl die jetzige Lage ja schon eine solche ist. Fragt man sich nicht mal mehr „oder sollen wir es lassen?“ (wie auf der ZEIT-Titelseite mit dem Pro/Contra über Seenotrettung), sondern hat schon entschieden, genau das zu tun?
Na ja, nicht in Österreich, aber in anderen Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschland, gibt es ja schon Pläne, zumindest Frauen und Kinder aus Griechenland zu holen. Wird halt jetzt auch von Covid-19 verzögert, bzw. behindert. Andererseits bin ich übrigens zwar froh um jede Person, die in Sicherheit gebracht wird. Aber dieses Bild, dass Frauen und Kinder Opfer sind und insbesondere junge, männliche Geflüchtete Täter ist auch hochproblematisch …
Ad Weltwirtschaftskrise: Diejenigen, die propagieren, den schwedischen Weg (vorher den britischen, der jetzt ja vom Tisch sein dürfte) zu gehen, argumentieren vor allem damit, dass die menschlichen Folgekosten einer Wirtschaftskrise die des Virus‘ noch übersteigen würden (Massenverelendung, sinkende Lebenserwartung usw.) und daher verhindert werden müsse. Ist das ein vorgeschobenes Argument, um den Schaden für Banken und Unternehmen klein zu halten oder liegt da tatsächlich eine Gefahr – und wenn ja, wie sollte man dieser begegnen? Neue Programme brauchen Zeit, zu greifen …
Hm. Ich kann das nicht wirklich beurteilen – aber eigentlich glaube ich, dass die meisten das nicht wirklich beurteilen können. Aber ich denke, dass so eine pseudo-rationale Abwägung sehr, sehr gefährlich ist. So ein malthusianischer/sozialdarwinistischer Zugang: Lassen wir halt die Alten und Kranken sterben, damit die Jugend noch Chancen hat. Entspricht natürlich irgendwie auch dem, was du in Bezug auf Griechenland und das Mittelmeer angesprochen hast. Dass das Recht auf Leben nicht mehr wirklich ernst genommen wird. Aber ich würde trotzdem meinen, dass wir uns so einer Betrachtung immer entgegenstellen müssen.
Ja, aber das Argument ist ja: Isolation der Risikogruppen, weniger Schaden für die Wirtschaft und damit letztlich für alle.
Klassisch marxistisch – aber durchaus ernst gemeint – würde ich sagen: Man kann nach dieser Krise die Wirtschaft so umstellen, dass die Lebenschancen nicht reduziert werden, aber halt nicht im Kapitalismus.
Klassisch marxistisch – aber durchaus ernst gemeint – würde ich sagen: Man kann nach dieser Krise die Wirtschaft so umstellen, dass die Lebenschancen nicht reduziert werden, aber halt nicht im Kapitalismus.
Naja, und wissen wir wirklich, wer die ausschließlichen Risikogruppen sind? Da gibt es doch erhebliche Zweifel, es betrifft also erstmal alle. Aber es gibt natürlich auch das Argument der Herdenimmunität. Wenn das so richtig ist: Wir brauchen einerseits immer genügend freie Intensivbetten und andererseits letztendlich eine Durchseuchung von 60 %, dann wird das noch ein langer, schwer zu steuernder Prozess.
Stichwort Zeit: Weder die Dauer der Eindämmung des Virus noch die Folgewirkungen können aktuell wohl zeitlich realistisch abgeschätzt werden – Leben im Dauerkrisenmodus also?
Schwer vorstellbar, was? Ich glaube, noch hoffen wir schon alle auf den nächsten Termin, der uns mitgeteilt wird, an dem sich die Sache zumindest lockern wird. Zugleich tue ich mir gerade sehr schwer abzuschätzen, wie das werden wird, wenn die Isolation – zumindest teilweise – aufgehoben wird. Ich bin mir nicht einmal bei mir selbst sicher – werde ich dann hektisch versuchen, 100 Leute zu treffen, oder bin ich bis dahin so eingegraben in meine Isolation, dass mich schon zwei Leute an einem Tag stressen. 😉
Irgendetwas tut diese Situation schon mit uns…
Irgendetwas tut diese Situation schon mit uns – und ich glaube nicht, dass wir das schon wirklich abschätzen können.
Zum Schluss also der Ausblick ins Ungewisse, sowohl ins eigene Innere als auch in die Welt, sofern man das trennen kann… Gibt’s noch etwas, das du mit losschicken möchtest auf diesem Weg, etwas, was wir (wer auch immer das ist) nicht aus den Augen verlieren sollten?
Ich denke, wir sollten jetzt schon beginnen zu reflektieren, was hier geschieht und diese Reflexion auch über die unmittelbare Krise hinweg aufrechterhalten. In Bezug auf alle Themen, die wir angesprochen haben – Ungleichheit, Freiheit, Sicherheit und Demokratie, Solidarität – und insgesamt unsere künftigen Lebenschancen und -entwürfe. Daher finde ich das auch wirklich großartig, dass du diese Interviews führst. Danke!
Danke dir für die Zeit und die Energie, das ist in so einer Situation nicht selbstverständlich!
Monika Mokre ist Politikwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Demokratie, Asyl und Migration, Kulturpolitik und Gender Studies und politische Aktivistin im Bereich Asyl und Migration. Sie arbeitet als Senior Researcher am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und unterrichtet an verschiedenen Universitäten.
Weiterführende Links, u. a. zu nicht-repressiven Maßnahmen gegen die Corona-Krise:
http://davidharvey.org/2020/03/anti-capitalist-politics-in-the-time-of-covid-19/
https://theintercept.com/2020/03/16/coronavirus-capitalism/
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/eine-politik-der-kaempfe-in-zeiten-der-pandemie/ https://transversal.at/tag/around-the-crown
https://transversal.at/tag/around-the-crown
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Foto: (c) Stefan Csáky/IKT