NICHTS WÄRE SCHLIMMER, ALS DIE RÜCKKEHR ZUR ALTEN NORMALITÄT

Interview, Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise

Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 02

Die Kulturbranche ist die erste, die für den Lockdown zur Eindämmung der Corona-Epidemie heruntergefahren wurde, und zwar zu 100 Prozent. Mit der Absage aller öffentlichen Veranstaltungen und deren absehbarem langfristigen Ausfall sowie der Schließung sämtlicher Museen, Galerien etc. ist sie der wohl am umfassendsten getroffene Sektor. Mit Lidija Krienzer-Radojević, Geschäftsführerin der IG Kultur Steiermark, hat Evelyn Schalk über Verteilungs/un/gerechtigkeit sowie Rettungsschirme gesprochen – und warum vor der Krise nicht nach der Krise sein darf.

TATsachen.at: Lidija, nicht nur, aber verstärkt in diesen Tagen ist die Frage, wie es Menschen geht, eine besonders ernst gemeinte. Also möchte ich auch diesmal damit beginnen. Wie geht es dir? Und von wo aus kommunizierst du gerade?

Lidija Krienzer-Radojević: Wie so viele Leute bin ich mit meiner Familie zu Hause. Wir machen Homeoffice mit zwei kleinen Kindern und daran ist absolut nichts Romantisches. Im Gegenteil, diese Situation verstärkt meine Überzeugung wie wichtig es ist, einen Arbeitsraum außerhalb des privaten Raumes zu haben. Natürlich ist das auch die Frage des soziales Status, denn wenn du kein Arbeitszimmer zu Hause hast, ist die Lage sehr anstrengend.

Das Leben hat sich in den letzten Wochen für die meisten Menschen dramatisch verändert. Wie ist deine Perspektive auf diese Situation, sowohl das Alltagsleben Einzelner, als auch eine ganze Gesellschaft als solche betreffend?

In diesen Tagen sagen viele, sie können es nicht erwarten, dass wieder Normalität einkehrt, dass diese Corona-Krise endlich vorbei ist und die Dinge wieder normal funktionieren. Doch die Frage ist: Was ist diese mysteriöse Normalität eigentlich? Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass diese Krise nicht außerhalb unserer Normalität liegt und entstanden ist, sie ist nichts “Unnormales”, sondern eine Phase, in der alle inneren und entwicklungsimmanenten Widersprüche unserer Gesellschaften, tief verankert in den sozialen Dynamiken des täglichen Lebens, an die Oberfläche kommen, und zwar direkt vor unserer Nase.

Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass diese Krise nicht außerhalb unserer Normalität liegt und entstanden ist…

Wir wussten schon die letzten zwei Jahrhunderte, dass der Kapitalismus ein System ist, das zerstörerische Auswirkungen auf das Wohl der Menschen und die ökologische Nachhaltigkeit hat. Jeder Aspekt der Corona-Krise bestätigt das. Die schmutzige Praxis kapitalistischer Agrarindustrie und die „global value chain“ in Kombination mit 40 Jahren neoliberaler Attacken auf das öffentliche Gesundheitswesen, Sozialsysteme und Pflege – alles im Interesse von Profit – hat die Gesellschaft wehrlos gemacht. Die Coronavirus-Pandemie ist eine Bedrohung, die sichtbar macht, dass die Organisation einer kapitalistischen Gesellschaft nicht darauf ausgerichtet ist, Menschenleben zu schützen, sondern Profite zu gewährleisten. Die notwendigen Lockdowns verursachen in den meisten Wirtschaftsbereichen einen dramatischen Einbruch von Produktion, Investition, Beschäftigung und Einkommen, aber sie werden in der Folge auch zahlreiche Leben kosten und viele kollektive und persönliche Tragödien nach sich ziehen.

Deshalb müssen wir vorsichtig sein und darüber nachdenken, welche langfristige Konsequenzen diese Politiken haben können und wir sollten auch aufpassen, die aktuelle Situation und die Widersprüchlichkeit der Interessen nicht falsch zu interpretieren. Denn wir sitzen nicht im selben Boot, dieses Bild, das die Reichen gern verwenden, wenn es für sie bequemer ist, in unser Boot zu springen. Eines ist sicher, für viele von uns hat es schon vor dem Ausbruch der Epidemie keine Normalität gegeben. Daher sollten wir diese Krise nicht als etwas sehen, das es einfach zu überwinden gilt, um dann weiter zu machen wie bisher, sondern sie als einen Moment denken, in dem Alternativen und Möglichkeiten gestaltet werden müssen.

Du bist Geschäftsführerin der IG Kultur Steiermark. Was bedeutet diese Krise für den Kulturbereich?

Auch hier sehen wir uns mit einer Lage konfrontiert, die wir schon seit langer Zeit kennen, aber die wir nicht ernst genommen haben. Doch die aktuelle Situation hat deren Dramatik zum Vorschein gebracht, sodass wir nicht länger wegschauen und einfach mit dem nächsten Projekt weitermachen können. Das Brisanteste an dieser Krise ist, dass sie die prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse im kulturellen Feld offengelegt hat, die besonders zeitgenössischer Kunst- und Kulturproduktion zugrunde liegen. Kurzarbeit als Rettungsboot für den Arbeitsmarkt ist eine gute Möglichkeit für Beschäftigte in normalen (Voll- oder Teilzeit) Arbeitsverhältnissen. Aber sie bietet keine Lösung für die meisten Kulturarbeiter*innen der freien Szene, denn diese sind in sogenannten atypischen Arbeitsverhältnissen beschäftigt – das heißt, meist mit geringer Stundenzahl, ohne Sozial- und Pensionsversicherung, ohne Recht auf Krankenstand –, oder gar ganz ohne Anstellungsverhältnis, also freiberuflich ohne jede Sicherheit.

Das Brisanteste an dieser Krise ist, dass sie die prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse im kulturellen Feld offengelegt hat, die besonders zeitgenössischer Kunst- und Kulturproduktion zugrunde liegen.

Unter dem Motto Fair Pay für Kulturarbeit kämpft die IG Kultur schon seit über zehn Jahren für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Sicherheit für Kunst- und Kulturarbeiter*innen und damit für mehr Stabilität im sozialen und privaten Leben, sowie weniger Ausbeutung in diesem Feld. Auch die großen Träume von unbegrenzt flexiblen und mobilen Kunst- und Kulturschaffenden verblasst gerade. Mit den Lockdowns wurden die meisten Künstler*innen aus ihren “residencies” geworfen und zurück in jene Länder geschickt, zu denen sie juristisch gehören. Diese Niederlage tut weh, denn viele müssen nun aufs Neue überlegen, wie und wovon sie nun leben sollen und wie sie ihr privates und berufliches Dasein organisieren.

Aber die Corona-Krise hat auch gezeigt, dass alles möglich ist, wenn es genügend politischen Willen oder Druck von außen gibt. Jeden Tag sehen wir, wie Millionen- und Milliardenpakete geschnürt werden, nicht nur, um Katastrophen in der Wirtschaft und der Kultur abzufangen, sondern das gesamte System zu stabilisieren. Die großen Phrasen, wie “es gibt kein Geld”, “wir dürfen keine Schulden machen, sondern müssen diese reduzieren”, “wir brauchen ein stabiles Budget” etc. sind vom Tisch. Plötzlich ist Geld da, plötzlich gibt es Lösungen.

Welche Art von Lösungen? Wie werden diese die Gesellschaft, in der wir leben, deiner Meinung nach langfristig verändern?

Naja, zu allererst sehen wir, wie die Neoliberalen von gestern heute keynesianische Politik machen. Diesbezüglich war ich sehr erfreut zu sehen, dass unsere Kulturpolitiker*innen sich ebenfalls bewegt und Maßnahmen für Kunst und Kulturschaffende beschlossen haben, aber noch immer bleibt die Frage, wem diese Politiken dienen.

Dennoch sehen wir schon, wie hier der sogenannte Matthäus-Effekt1 eintritt, das heißt, dass diese Maßnahmen vor allem jene stärken, die bis jetzt schon in besseren Positionen waren, zum Beispiel über mehrjährige Förderverträge verfügen oder über höhere Einkommen im Jahr 2019. Das ist problematisch, denn damit wird klar, dass die Maßnahmen bestehende soziale Ungleichheiten weiter verschärfen und dadurch zu noch größerer sozialen Instabilität und wachsender Unsicherheit führen können. Und das gilt nicht nur für die Kultur, sondern für das gesamte System.

Noch viel bedenklicher wird dies, da wir wissen, dass es öffentliche Gelder sind (unser aller Vermögen!), das jetzt in private Hände umgeleitet wird. Zur Erinnerung, Marx definiert die Funktion von Geld so: “Das Geld gibt die gesellschaftliche Macht als Ding in die Hand der Privatperson, die als solche diese Macht übt.” Wenn ich in den großen Medien sehe, wie panische Unternehmer*innen – Immobilienkonzerne, Aktiengesellschaften, Tourismusgiganten – nach öffentlichen Investitionen für “Ertrinkende” schreien, indem sie sich selbst als die wichtigsten Teile der Gesellschaft inszenieren, die es um jeden Preis zu retten gilt, kann ich nicht anders, als an die Krise von 2008 zu denken: Massive Rettungsschirme für Banken, gespeist aus der Umverteilung von öffentlichen Geldern, mit denen die Schulden Privater abgesichert wurden. Zwölf Jahre später hat uns das nicht mehr Gleichheit im Sinne eines stärkeren öffentlichen Gesundheitssystems mit freiem Zugang für alle gebracht, wie wir es heute dringend benötigen würden, sondern es wurde eine neue Finanzblase geschaffen, die in Kombination mit der Pandemie diese Krise noch weiter verschlimmert. Nichtsdestotrotz zeigt diese Pandemie eindrücklich, wer die wirklich relevante Arbeit für die Gesellschaft leistet – und es sind nicht die Banker und Manager.

Nichtsdestotrotz zeigt diese Pandemie eindrücklich, wer die wirklich relevante Arbeit für die Gesellschaft leistet – und es sind nicht die Banker und Manager.

Ebenso wie bei dem Warenfetisch, verschleiert und mystifiziert Geld die tieferliegenden sozialen Verhältnisse unserer kapitalistischen Gesellschaften, die Beziehungen von Herrschaft und Ausbeutung, darum müssen wir eine Umverteilung öffentlicher Gelder fordern, die mit der Überwindung dieser Verhältnisse einhergeht und eine gerechtere Gesellschaft mit größerer sozialer Sicherheit schafft. Oder einfach ausgedrückt, wir müssen dagegen ankämpfen, dass die Bewältigung einer weiteren Krise auf Kosten der arbeitenden Menschen erfolgt. Das bedeutet, dass wir, wenn es vorbei ist, nicht erlauben dürfen, zu den alten Mustern zurückzukehren. Stattdessen gilt es, eine neue Normalität zu schaffen. Diese Normalität wird die Basis sein für eine fairere Verteilung von Vermögen und mehr ökologischer Gerechtigkeit. Soziale Sicherheit und freier Zugang zum Gesundheitssystem sind dann ein Recht und kein Privileg, und die Bedürfnisse von Menschen in Übereinstimmung mit der Natur haben Priorität vor denen des Profits durch die “unsichtbare Hand” des Marktes. Das gilt auf globaler, wie auch auf lokaler Ebene.

Das bedeutet, dass wir, wenn es vorbei ist, nicht erlauben dürfen, zu den alten Mustern zurückzukehren. Stattdessen gilt es, eine neue Normalität zu schaffen. Diese Normalität wird die Basis sein für eine fairere Verteilung von Vermögen und mehr ökologischer Gerechtigkeit.

Was heißt das für jene, die im Kulturbereich arbeiten?

Für uns in der Kultur heißt das, wir sollten diese Zeit nützen, unsere Position innerhalb des neoliberalen Kapitalismus zu überdenken und uns für die Kämpfe nach der Krise organisieren. Allerdings in die Richtung eines „verfeinerten Radikalismus“ und nicht bloß eines „grobkörnigen Entweder-Oder“, wenn ich Rosa Luxemburg zitieren darf. Jetzt ist die Zeit, unangenehme Fragen aufzuwerfen und über die Widersprüche in unserem Leben nachzudenken, sowie Visionen zu entwickeln. Vielleicht in diese Richtung: Weniger arbeiten, aber dafür besser bezahlt werden und auf diese Weise nicht nur mehr Nachhaltigkeit im persönlichen Leben zu erreichen, sondern für das gesamte kulturelle Feld.

Lidija Krienzer-Radojević ist Kulturanthropologin, sie hat am Institut für Zeitgenössische Kunst der TU Graz gelehrt und war bis 2014 Mitarbeiterin der Universität Ljubljana. Weiters hat sie für die Workers and Punks‘ University Ljubljana, einer informellen Bildungsplattform, unterschiedliche Ausbildungsformate entwickelt. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte bezieht sich auf die soziale Integration der kapitalistischen Verhältnisse in das gesellschaftliche Leben. Seit 2018 ist sie Geschäftsführerin der IG Kultur Steiermark.

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1Die Bezeichnung „Matthäus-Effekt“ spielt an auf einen Satz aus dem Matthäusevangelium aus dem Gleichnis von den anvertrauten Talenten an: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“