MYTHOS DIGITAL NATIVES
Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 07
Mit einem frohen und einem besorgten Auge blicken derzeit die meisten auf die schrittweise Öffnung von Schulen und Kitas in COVID-19 Zeiten; waren die letzten Wochen doch gerade für Familien eine besondere Herausforderung, die zusätzlich zum Homeoffice auch noch Homeschooling bzw. die Betreuung von Kleinkindern organisieren mussten. Doch auch Kinder und Jugendliche, denen man als „Digital Natives“ einen nahtlosen Übergang von der realen zur virtuellen Präsenz unterstellt, müssen in diesen Zeiten mit Herausforderungen kämpfen. Unterstützt werden sie dabei von Sozialarbeiter*innen in der offenen Jugendarbeit. Günter Bruchmann vom Jugendzentrum ECHO hat mit Ulrike Freitag dazu ein E-Mail Interview geführt. Er selbst ist vor einigen Wochen zur Miliz eingezogen worden, doch in den Wochen davor hat er gemeinsam mit seinen Kolleg*innen einen alternativer Zugang zum Jugendzentrum erarbeitet, der nicht nur datenschutzkonform, sondern auch niederschwellig konzipiert ist.
TATsachen.at: Ihr habt wahnsinnig schnell reagiert und das Jugendzentrum unter Einhaltung aller nötigen Datenschutzrichtlinien ins Netz verlegt, um so eure Pforten – zumindest virtuell – offen halten zu können. Daher zunächst die naheliegendste Frage: Wie stell‘ ich mir ein virtuelles Jungendzentrum vor und wie habt ihr die Mehrarbeit, die für diese schnelle Umsetzung nötig war, bewältigt?
Günter Bruchmann: Hier galt es drei große Pakete zu bewältigen. Einerseits das Finden und Einrichten DSGVO konformer digitaler Tools. Das Einlernen in die Benutzung der digitalen/technischen Werkzeuge und eine völlig neue Arbeitsweise – eine persönliche Beratung und Begleitung unterscheidet sich enorm von einer Online-Beratung. Der dritte Punkt war dann schlussendlich, auch den Jugendlichen die Nutzung dieser neue Tools zu ermöglichen und näher zu bringen. Speziell in den ersten Wochen waren enorme Überstunden notwendig, um schnellstmöglich alles zum Laufen zu bringen. Dennoch ist ein digitales Tool wie Discord zu wenig. Wir nutzen alle Kanäle, also nicht nur den Discord-Server, sondern ebenfalls Instagram, Signal und natürlich auch Telefongespräche, um mit so vielen Jugendlichen wie möglich den Kontakt halten zu können.
Was genau ist Discord?
Im Prinzip sind alle zuvor genannten Kommunikationsmöglichkeiten zusammen ein virtuelles Jugendzentrum. Herausstechend ist aber natürlich der Discord Server. Discord ist eigentlich ein Sprachchat für Gamer. Er war aber gut für unsere Zwecke adaptierbar. Ein Sprach-Chatroom kann adäquat zu einem physischen Raum gesehen werden. Nur Personen, die eine Berechtigung haben, dürfen diesen Raum betreten. So gibt es nun eigene Räume für Burschen oder Mädchen, einen offenen Barbereich, Lern- und Gamingräume und sogar unsere Werkstatt ist mit Tutorial Videos online.
Wie wird euer Angebot angenommen? Kommen noch die selben Personen oder hat sich das verändert? Gibt es Jugendliche, zu denen der Kontakt jetzt nicht mehr möglich ist? Oft wird ja von den „verlorenen Kindern“ gesprochen, die von Schulen nicht mehr erreicht werden. Ein besonderes Problem stellt in diesem Zusammenhang auch der Zugang zum Internet bzw. technischen Ressourcen da. Habt ihr dieses Problem auch?
Wir sehen ähnliche Problemkonstellationen wie die Schulen. Oft haben gerade jene Jugendliche, die zu uns ins Jugendzentrum kommen, weder die technischen Möglichkeiten (kein Handy, kein Internet oder keinen PC), noch das ihnen zugeschrieben Attribut digital native. Ganz im Gegenteil: Jugendliche haben große Probleme innerhalb der digitalen Welt. Auch wenn sie scheinbar ständig mit ihren Smartphones hantieren, können schon kleine Herausforderungen zu großen Problemen werden. Einige wissen nicht, das sie eine E-Mail Adresse haben, ganz zu schweigen von dem Wissen, wofür eine solche überhaupt gut sein soll. Somit können sie sich bei gewissen Diensten nicht registrieren usw. führt dieser Umstand natürlich zu erhöhter Frustration. Ich denke, man hat hier einer ganzen Generation einfach etwas zugeschrieben und vergessen, dass man ihnen vieles trotzdem auch beibringen muss.
Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihrer 80-jährigen Großmutter erklären, was eine E-Mail Adresse ist und wie sie damit umgehen muss. Und das im besten Fall während eines Telefongesprächs. Die Jugendlichen sind nicht dumm, sie haben bloß mit vielen Strukturen bisher einfach noch keinen Umgang gehabt, da es bei den genutzten Mainstream-Apps ausreicht, auf einen großen grünen Knopf zu drücken und alle Berechtigungen freizugeben. Diesbezüglich gibt es auch in der offenen Jugendarbeit enormen Nachholbedarf.
Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihrer 80-jährigen Großmutter erklären, was eine E-Mail Adresse ist und wie sie damit umgehen muss. Und das im besten Fall während eines Telefongesprächs. Die Jugendlichen sind nicht dumm, sie haben bloß mit vielen Strukturen bisher einfach noch keinen Umgang gehabt
Von der schlichten Überforderung von Eltern liest man täglich in Zeitungen und Sozialen Medien. Doch wie sieht die Perspektive der Jugendlichen aus? Was sind aus eurer Sicht die größten Herausforderungen, mit denen junge Menschen derzeit zu kämpfen haben?
Die größten Herausforderungen für die Jugendlichen sind einerseits der Informationsmangel und auch die schulischen Herausforderungen. Viele Jugendliche haben zu Recht in der Fülle der widersprüchlichen Informationen und Regeln den roten Faden verloren. Sie wissen nicht, was erlaubt ist und was nicht. Unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahren eine immer restriktivere Pädagogik an den Tag gelegt. Wir haben Jugendliche dazu erzogen, hauptsächlich auf das zu hören, was Erwachsene ihnen sagen. Eigenkompetenzen, -verantwortung und -wirksamkeit gingen dabei verloren. Wenn wir aber jetzt genau das von ihnen erwarten, überfordern wir sie nur noch mehr.
Unsere Gesellschaft hat in den letzten Jahren eine immer restriktivere Pädagogik an den Tag gelegt. Wir haben Jugendliche dazu erzogen, hauptsächlich auf das zu hören, was Erwachsene ihnen sagen. Eigenkompetenzen, -verantwortung und -wirksamkeit gingen dabei verloren.
Ihr bietet ja auch Lernunterstützung an. Wie geht es den Jugendlichen mit dem viel zitierten „Homeschooling“, das Eltern wie Lehrkräfte erschöpft? Ihre Perspektive wird hier ja meist ganz ausgespart …
Zumeist tun sie sich sichtlich schwerer. Wie schon so oft beschrieben, sind zum einen die fehlenden Grundkenntnisse von digitalen Tools eine Thematik, aber speziell für jene Schüler*innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, ist es eine enorme Herausforderung, überhaupt erst die Fragestellungen zu begreifen. Zudem schaffen es einige nicht, einen geregelten Tagesablauf zu etablieren und fühlen sich mit wöchentlichen oder monatlichen Arbeitspaketen komplett überfordert. In diesen Punkten versuchen wir durch die Lernbar online, die es im offenen Betrieb ja auch schon gab, Hilfestellungen zu etablieren. Jedoch ist es für viele auch schwierig, die vorhandene Hardware (Computer), mit ihren Geschwistern zu teilen, um alle notwendigen Aufgaben zu erledigen.
Gamerchat, Youtube & Co.: Für manche Eltern klingt das vielleicht danach, dass ihre Kinder noch mehr Zeit vor dem PC/Tablet verbringen; wie seht ihr das?
Der virtuelle Raum ist Teil der Lebenswelt von Jugendlichen. Es geht nicht darum ihnen das zu verbieten oder Ängste zu schüren, sondern vielmehr darum, sich mit ihnen gemeinsam damit auseinanderzusetzen. Spätestens jetzt wollen die Jugendlichen nichts lieber als wieder raus zu gehen, um sich mit ihren Peergroups zu treffen. Es ist erkennbar, dass Jugendliche beides fordern und von ihrem Leben erwarten. Wichtig ist es hier, eine gute Balance zu finden. Es geht darum, sie dabei zu unterstützen, eigenmächtige Persönlichkeiten zu sein und ihnen in beiden Welten offen und interessiert gegenüber zu treten. Erst wenn man nachvollziehen kann, was ihnen an den jeweiligen Bereichen Freude oder Interesse bereitet, kann man sinnvoll einwirken. Generelle Verbote sind immer mit Bedacht auszusprechen, da diese oft erst recht Interesse an etwas wecken. Vielmehr sollten Timeslots geschaffen und ein sorgsamer Umgang vermittelt werden. In diesem Punkt kann ich einige soziale Einrichtungen nicht nachvollziehen, die mit offensichtlich problematischen Tools wie WhatsApp oder Zoom arbeiten. Gerade wir sollten uns – in allen Bereichen der Sozialen Arbeit – unserer Vorbildwirkung bewusst sein.
Die Ausgangsbeschränkungen werden gelockert und die Schulen stufenweise aufgemacht, einen Spalt breit öffnet sich eine Tür zurück in gewohnte Zeiten. Was nehmt ihr aus der jetzigen Situation mit in diese Zukunft? Bleiben die virtuellen Angebote weiterhin bestehen (parallel)?
Derzeit haben wir auch mit gesonderten Regelungen geöffnet. Das Angebot eines Online-Jugendzentrums bleibt vorerst weiterhin bestehen. Im Grunde bräuchte es dieses sowieso, um Jugendlichen die Angebote niederschwellig zu ermöglichen. Leider ist das natürlich immer eine Ressourcenfrage. Wie es mit dem virtuellen Angeboten weitergeht, nachdem wieder eine reguläre Öffnung möglich ist, wissen wir daher noch nicht. Jedoch wäre es mehr als verschwendete Zeit, diese neu aufgebauten Zugänge und Ressourcen einfach wieder abzudrehen. Es müsste wie oben schon thematisiert eine Herangehensweise gefunden werden, um im analogen Jugendzentrum gemeinsam die virtuelle Welt zu erkunden.
Was ist dir persönlich in diesem Zusammenhang wichtig aufzuzeigen?
Wie ich schon angesprochen habe, benötigt es von der Gesellschaft ein klares Statement, Jugendliche auch in digitalen Medien zu schulen. Wir überlassen derzeit alles marktorientierten Konzernen. Das wäre das gleiche, wie wenn wir Coca-Cola die Ernährungsberatung unserer nächsten Generation anvertrauen würden. Es ist auch nicht die Aufgabe dieser Firmen, die Erziehung und Begleitung unserer Kinder und Jugendlichen zu übernehmen.
Es muss uns klar sein, dass Digitalisierung einen immer größeren Teil des Lebens einnehmen wird, daher sollten wir sehr schnell agieren, ansonsten haben wir eine ganze Generation zu „digital illiterates“ gemacht.
Es muss uns klar sein, dass Digitalisierung einen immer größeren Teil des Lebens einnehmen wird, daher sollten wir sehr schnell agieren, ansonsten haben wir eine ganze Generation zu „digital illiterates“ gemacht.
Es heißt, ein langweiliger Mensch ist jemand, der auf die Frage, „Wie geht es dir?“ mit der Wahrheit antwortet – das hat sich in den „Corona-Zeiten“ geändert. Daher zum Abschluss ganz unverblümt: Wie geht es dir eigentlich?
Puh, also jammern liegt mir fern. Ich bin seit kurzen zum Staatsdienst (Miliz) eingezogen worden. Ich mache mir viele Gedanken über meine Kolleg*innen und wie es ihnen nun geht. Soweit ich kann, versuche ich sie natürlich zu unterstützen, das ist aber bei 60-Stunden-Wochen nicht unbedingt einfach. Ich weiß, sie können alles managen, aber trotzdem fehlt eine komplette Person im Team und das macht gerade in Zeiten, in denen alles neu ist und Sonderregelungen gefunden werden müssen, um überhaupt einen offenen Betrieb virtuell und analog aufzubauen, nicht unbedingt einfacher. Es macht sich natürlich ein Gefühl breit, meine Kolleg*innen ein wenig im Stich zu lassen.
Bei soviel Arbeit bleibt wohl kaum Zeit, um auch nur kurz durchzuschnaufen und sich zu erholen … Umso mehr danken wir dir dafür, dass du dir die Zeit für dieses Austausch genommen hast.
Günter Bruchmann ist Leiter des Jugendzentrums ECHO in Graz. Ausbildung zum Wirtschaftsingenieur. Arbeit als Auftragsdisponent und Commissioning Engineer in Europa und Asien. Danach Studium Soziale Arbeit und Sozialmanagement mit Schwerpunkt Gemeinwesenarbeit und Community Organizing. Seit 2013 als Streetworker und in der offenen Jugendarbeit tätig. Projektkonzeption und Mitarbeit beim Projekt „ECHO MOBIL“.
Foto: (c) Dietrich Brunner