DIE AUTORITÄT IST IMMER NUR FÜR DIE ANDEREN DA
Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 08
Wie die Rechtspopulisten mit der Corona-Krise umgegangen sind – Jean-Yves Camus im Interview mit Norbert Mappes-Niediek
Der Pariser Politologe Jean-Yves Camus, 62, gilt seit Beginn der 1990-er Jahre als der beste Kenner der europäischen Rechtsparteien. Sein Buch „Front national: Eine Gefahr für die Demokratie“ ist 1998 auch auf Deutsch erschienen.
Tatsachen.at: In der Corona-Krise haben die europäischen Rechtsparteien krass unterschiedliche Positionen bezogen. In Italien hat Matteo Salvini die Epidemie anfangs komplett geleugnet. Anderswo waren den Rechten die Maßnahmen dagegen nicht streng genug. Hatten oder haben die Parteien in ihrer Haltung überhaupt etwas gemeinsam?
Jean-Yves Camus: Ja, durchaus. Alle haben sie gesagt: Das Virus konnte sich entwickeln, weil wir in einem System der liberalen Globalisierung leben, wo jeder überallhin reisen kann, wo es keine Grenzkontrollen gibt und wo der Staat folglich Ein- und Ausreisen und die Bewegung von Personen nicht mehr überwachen kann.
Entsprechend blieb die Forderung nach einer Rückkehr zum Nationalstaat über die ganze Zeit der Krise hinweg konstant.
Entsprechend blieb die Forderung nach einer Rückkehr zum Nationalstaat über die ganze Zeit der Krise hinweg konstant.
Aber protestieren viele von ihnen nicht gerade jetzt gegen staatliche Überwachung?
Die Haltung der meisten dieser Parteien ist ein bisschen kompliziert. Sie müssen einerseits der Tatsache Rechnung tragen, dass die Pandemie sich festgesetzt hat, besonders in Frankreich, Italien, Spanien, und verlangen, dass der Staat mehr tut, um bestimmte Personen, Ältere zum Beispiel, zu schützen. Gleichzeitig aber stören sie sich an allem, was zur Nachverfolgung von Infektionen unternommen wird.
An der Handy-App.
Genau. Sie gilt ihnen als Beweis dafür, dass die Staaten die neue Durchsichtigkeit für die Aufrichtung einer Diktatur nützen wollen, dass die Methoden der Überwachung unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes immer zahlreicher werden.
Wie sind die Parteien mit dem Widerspruch umgegangen?
Da, wo die Maßnahmen strenger waren, also in Frankreich, Spanien und Italien, haben die Rechtsparteien sehr rasch erklärt, dass es unmöglich sei, die Wirtschaft komplett abzuriegeln. Stattdessen wollten sie, um ihren Wählern Sicherheit zu geben, Tests und Maskenpflicht. Wo die Maßnahmen weniger streng waren, wie in Skandinavien und den Niederlanden, haben die populistischen Parteien mehr Hilfe für kleine und mittlere Unternehmen gefordert. Sie sind aber alle nicht in Totalopposition gegen die Regierung getreten – außer, wenn es um die Globalisierung und die Rolle der EU ging. Das Ziel ist die Rückgewinnung völliger Souveränität.
Kann man sagen: In der Wählerschaft der Rechten liegen zwei Empfindungen im Widerstreit, eine autoritäre und eine rebellische, libertäre?
So ist es. Für die Parteien ist das natürlich ein Problem. Sie müssen eine autoritäre Antwort auf die Krise geben: Grenzen schließen oder wenigstens kontrollieren, den Staat stärken, einen Staat, der vor allem schützt, Brüssel ausrichten, dass es schlechte Politik macht, China einen Teil der Verantwortung zuschieben – das ist übrigens neu, diese frontale Gegnerschaft zu China. Und dagegen steht eine, wie Sie es nennen, libertäre Haltung, um nicht zu sagen eine Anarchie von rechts.
Wie passt beides in den Köpfen denn zusammen?
Menschen, die ständig mehr Ordnung, mehr Polizei, mehr Grenzkontrollen fordern, werden auf einmal sehr unruhig, wenn der Staat nun auch von ihnen etwas verlangt. Die Autorität ist immer nur für die anderen da. Ihr dagegen, sagen die rechtspopulistischen Parteien ihren Wählern, dürft unter allen Umständen tun, was ihr wollt.
Menschen, die ständig mehr Ordnung, mehr Polizei, mehr Grenzkontrollen fordern, werden auf einmal sehr unruhig, wenn der Staat nun auch von ihnen etwas verlangt.
Wo steht in diesem Koordinatensystem der Rassemblement national, Marine Le Pen?
Anders als die Lega in Italien, die FPÖ in Österreich oder die flämischen Nationalisten hat der RN nie an einer Regierung teilgehabt, und er hat das gesamte politische Spektrum gegen sich. Marine Le Pen konnte sich so von Beginn der Krise an nur total gegen die Politik der Regierung stellen. Andernfalls hätten ihr ihre Wähler Verrat vorgeworfen. So hat sie gleich sehr starke Worte gewählt, von einer Lüge gesprochen, der Lüge des Staates und des Präsidenten.
Lüge?
Es sei eine Lüge, dass der Staat sich nicht besser habe vorbereiten können. Es gibt zwei Denkweisen zu Corona. Eine ist die des Präsidenten. Sie besagt: Die besten Wissenschaftler der Welt wissen nicht, woher das Virus kommt, wie es sich verhält und wie wir uns gegenüber ihm verhalten sollen. Also müssen wir uns von Tag zu Tag neu an die Gesundheitslage anpassen. Die andere ist die von Marine Le Pen. Sie sagt: Es ist alles ganz einfach. Wenn man in der Lage sein will, einer Epidemie dieser Art zu begegnen, dann hat der Staat doch alle Mittel, um die richtige Strategie dagegen zu finden!
Hätten Sie erwartet, dass Le Pen mehr mit Verschwörungsmythen flirten würde, etwa dass Bill Gates hinter der Epidemie steckt?
Nein. Um ihrer Regierungsfähigkeit willen konnte sie sich nicht mit offenkundig absurden Theorien identifizieren. Sie fordert, wie viele andere verantwortliche Politiker weltweit, eine Untersuchungskommission, die die Entstehung und Verbreitung des Virus erforscht. Sie sagt nicht, dass die Behauptung der WHO, das Virus sei von einem Tier auf den Menschen übergesprungen, falsch sei. Sie schließt nur nicht aus, dass es aus einem Labor stammt. Das ist allerdings keine Verschwörungstheorie.
Außer, es kommt als Gewissheit daher.
Nach einer Umfrage glauben vierzig Prozent der RN-Wähler, dass irgendetwas Unbekanntes hinter der Epidemie steckt und dass die offiziellen Theorien nicht stimmen.
Werden die Rechtsparteien von der Krise profitieren?
Im Moment liegt Marine Le Pen bei rund 26 Prozent, das ist kein großer Zugewinn. Der Präsident dagegen verzeichnet ein bescheidenes Plus an Popularität. Wie es am Ende ausgeht, wird sich an der Frage entscheiden, ob eine zweite Welle kommt. Kommt sie, wird Le Pen maximalen Vorteil daraus ziehen können, indem sie behauptet, die Öffnung nach dem Lockdown sei zu früh erfolgt.
Ohne eine zweite Welle wird sie – und werden wohl auch die anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa – nicht profitieren.
Ohne eine zweite Welle wird sie – und werden wohl auch die anderen rechtspopulistischen Parteien in Europa – nicht profitieren.
Jean-Yves Camus ist einer der führenden Rechtsextremismus-Forscher in Europa. Geboren 1958 in eine konservativ-katholische Familie, wandte sich der Student am berühmten Politologie-Institut „Sciences Po“ linksliberalen Ideen zu und konvertierte später zum Judentum. Neben der extremen Rechten beschäftigt ihn vor allem das jüdisch-muslimische und das israelisch-arabische Verhältnis. In den 2000-er Jahren trat Camus mit journalistischen Artikeln in Le Monde diplomatique hervor. Seit 2006 forscht er am Institut des relations internationales et stratégiques (IRIS), seit 2014 leitet er die Fondation Jean Jaurès, eine Stiftung, die der sozialistischen Partei nahesteht. Eines seiner zahlreichen Bücher ist unter dem Titel „Front National – Eine Gefahr für die französische Demokratie?“ 1998 auch auf Deutsch erschienen.