CORONA KEHRT NACH HAUSE ZURÜCK

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Aktualisierte Version der serbischsprachigen Erstveröffentlichung auf Peščanik.net

Wer nach dem Ende des Ausnahmezustands die Maske an den Nagel gehängt hatte, musste gestern Abend wieder nach ihr greifen, da in Belgrad neue Maßnahmen aufgrund alter Dummeheit der Regierung eingeführt wurden, über die einige Medien beharrlich berichtet und vor der Gefahr einer potenziellen Ausbreitung des Virus infolge von keinesfalls als normal zu bezeichnenden Wahlkampfaktionen der Serbischen Fortschrittspartei (SNS) gewarnt hatten. Alles begann mit Fackelzügen auf Gebäudedächern, bald darauf kam es zu Massenversammlungen von Regierungssympathisant*innen, sowie beängstigenden Bildern einer potenziellen Masseninfektion beim ewigen Belgrader Fußballderby zwischen Roter Stern und Partizan, ehe schließlich alles mit den Wahlen und einer allumfassenden Freudenbekundung der Fortschrittspartei und ihrer Anhänger*innen endete. Die Folgen dieses Verahaltens führten dazu, dass der Krisenstab einige Maßnahmen wieder einführte, von denen das Tragen einer Maske in geschlossenen Räumen, das Abstandhalten und die Verhängung von Strafen für ein Nichteinhalten dieser Maßnahmen die wichtigsten waren.

Als Hauptschuldige für das neuerliche Ansteigen der Infektionskurve wurden Nachtclubs und junge Menschen genannt. Die Nachtclubs waren jedoch die letzten Orte, die nach dem Ende des Ausnahmezustandes wieder geöffnet wurden, während die Wettcafés zu den ersten zählten

Als Hauptschuldige für das neuerliche Ansteigen der Infektionskurve wurden Nachtclubs und junge Menschen genannt. Die Nachtclubs waren jedoch die letzten Orte, die nach dem Ende des Ausnahmezustandes wieder geöffnet wurden, während die Wettcafés zu den ersten zählten – wohl kein Zufall in Hinblick auf die Einnahmen, die dem Staat aus Glücksspielen und Wetten erwachsen – ein Faktor, der gerade vor den Wahlen keinesfalls zu vernachlässigen war, auch wenn deren Ergebnis ohnehin bereits im Vorfeld mehr oder weniger feststand. Doch was die für die Stimmenauszählung zuständige Staatliche Wahlkommission (RIK) nicht erheben konnte, waren die tatsächlichen Ergebnisse der Politik der SNS und ihres Präsidenten Aleksandar Vučić, nämlich der katastrophale Umgang mit der Epidemie, die mangelhaften medizinischen Maßnahmen und die Rolle der Medien, die sich an der Manipulierung der Bürger*innen beteiligten.

Die endgültigen Wahlergebnisse trafen erst ein, nachdem die Öffentlichkeit erfahren hatte, dass hochrangige SNS-Funktionär*innen positiv auf das Coronavirus getestet worden waren. Darunter die für das Amt der Kulturministerin kandidierende Maja Gojković, weiters Aleksandar Vulin, Kandidat für irgendeinen Ministerposten, Marko Đurić, der wahrscheinliche Kandidat für die weitere Leitung der Kosovo-Kanzlei (KiM), Marko Čadež, Präsident der serbischen Handelskammer, sowie viele mehr, deren Namen nicht so bald an die Öffentlichkeit gelangen werden. (Mit besonderer Aufmerksamkeit wartet man auf das Testergebnis von Rasim Ljajić [Anm.: der stv. Ministerpräsident war während einer Wahlkampfveranstaltung in Novi Pazar von der Bühne in die versammelte Mange gesprungen und hatte sich rockstarmäßig von dieser tragen lassen], auch wenn dieser Tage ein wahres Gedränge rund um die Durchführung von PRCR-Tests herrscht.) Dort, wo sich die genannten Politfunktionär*innen infizierten, muss es eine weitaus dynamischeren Anstieg der Nachwahl-Infektionen gegeben haben, als dies der Öffentlichkeit vermittelt wird. Als Beispiel für die zur Schau gestellte Verantwortungslosigkeit von Angehörigen der Staatsmacht sei auf die scheidende Regierungschefin Ana Brnabić verwiesen, die gerne verkündet, dass „die Arbeit von Politikern mit dem Risiko einer Ansteckung einhergeht“ und es deshalb normal sei, dass sich einige hohe Funktionär*innen mit Covid-19 infiziert hätten. Genauso groß ist dieser gleichnishaften Aussage der Premierministerin zufolge wohl auch das Möglichkeit, dass alle Infizierten unter einen fahrenden Autobus geraten. Vulin lässt sich vom Virus indes nicht unterkriegen, da er laut Medien seine Arbeit in vollem Umfang erledige, so als ob nichts geschehen sei. Theoretisch betrachtet besteht die Möglichkeit, dass sich die gesamte scheidende Regierung (außer Vučić natürlich) mit dem Coronavirus angesteckt hat, sie aber ungeachtet dessen auch weiterhin ihren Verpflichtungen im Online-Modus, über Megaphone, die Medien, Zurufe aus Fenstern oder schließlich gar mit der Verwendung von primär die jungen Menschen disziplinierenden Stöcken nachkommt, wie unlängst vom Bürgermeister von Kragujevac, Radomir Nikolić (Sohn des ehemaligen serbischen Präsidenten Tomislav Nikolić) verkündet.

Beizeiten ließ die scheidende Premierministerin Brnabić wissen, dass sie „die Wahlen kaum erwarten kann, damit Serbien seinen fortschrittlichen Kurs fortsetzt“.

Die Dinge entwickelten sich jedoch in eine gänzlich andere Richtung, weil Serbien nach den Wahlen zumindest in Bezug auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie mit Höchstgeschwindigkeit einen rückwärtsgewandten Kurs einschlug

Die Dinge entwickelten sich jedoch in eine gänzlich andere Richtung, weil Serbien nach den Wahlen zumindest in Bezug auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie mit Höchstgeschwindigkeit einen rückwärtsgewandten Kurs einschlug, wobei es eine allgemein bekannte Tatsache ist, dass diese Maßnahmen bei uns eng mit der Politik verwoben sind. Nach der einmaligen Benutzung der Wähler*innenschaft für die Verrichtung unehrenhafter Wahlkampfaktionen, legten Vučić und seine Partei den Rückwärtsgang ein, wie schon bald auf allen Ebenen sichtbar werden wird. Die erste rote Karte traf in Form des Beschlusses aus Brüssel ein, mit Serbien kein weiteres Verhandlungskapitel zu eröffnen, obwohl ein Kapitel die Freizügigkeit von Arbeitnehmer*innen betreffend erwartet worden war. Vučić und Brnabić zeigten sich über diesen Beschluss verwundert und gaben bekannt, dass sie nun noch schneller und effizienter an einer weiteren Reform des Systems arbeiten würden, was jedoch nicht der EU zuliebe, sondern zu unser aller Wohl geschehe. Sehr schön. Wenn für die Eröffnung von 18 Kapiteln schon sieben lange Jahre erforderlich waren, wieviel Zeit wird es dann angesichts der Rückwärtsbewegung des gesamten Systems für die insgesamt 35 Kapitel brauchen? Diese mathematische Frage könnte bis zu den nächsten Wahlen das Nationale Amt für Statistik lösen, das die Meinung vertritt, all das sei gar nicht so schlecht, wenn man es bloß aus göttlicher Perspektive betrachte.

Corona kehrt nach den Wahlen unerbittlich und mittlerweile auch offiziell zurück, auch wenn es immer da war und sich nur während des Wahlkampfs kein Gehör verschaffen durfte. Nun erklärt uns Prof. Dr. Goran Stevanović, dass die Maske die einzige Lösung sei und man in Bezug auf Corona eine regionale Herangehensweise an den Tag legen müsse, indem man die Brände dort löscht, wo sie ausbrechen, wie gegenwärtig etwa in Novi Pazar, Kragujevac und Užice. Dies bedeutet, dass Ausnahmezustände lokal verhängt werden und eine Abrechnung mit denjenigen Medien stattfindet, die immer wieder auf die Manipulationen durch die Regierung aufmerksam machen. Mit einem solchen Ziel beabsichtigt die scheidende Premierministerin Brnabić, nach Novi Pazar zu reisen und alle alarmierenden Berichte über diese Gemeinde zu widerlegen.Das Löschen der Brände, die nach den Wahlen ausgebrochenen sind und die Wählerschaft erfasst haben, werde man – so der Krisenstab – nicht mit einer totalen Abriegelung bewerkstelligen, da dies die Gefahr eines Zusammenbruchs der Wirtschaft berge. Die Ausgangssperre und das markante Pfeifen werden durch Disziplinarkommissionen mit Stöcken und Geldstrafen von 20.000 Dinar ersetzt, die ungehorsame Bürger*innen zu zahlen haben.

Dies stellt auch das wichtigste Ergebnis der vergangenen Wahlen dar – eine Ausbreitung der Krankheit und das Eintreiben von Strafen

Dies stellt auch das wichtigste Ergebnis der vergangenen Wahlen dar – eine Ausbreitung der Krankheit und das Eintreiben von Strafen, denn alles, wozu Epidemiolog*innen rieten, änderte sich in Abhängigkeit von den politischen Bedürfnissen, sodass die rückläufigen Corona-Zahlen vor den Wahlen letztendlich in einen Anstieg selbiger nach dem Urnengang mündeten und die Notwendigkeit des Ergreifens restriktiver Maßnahmen erforderlich machten.

Der epische Sieg der SNS wird dem ganzen Land teuer zu stehen kommen

Der epische Sieg der SNS wird dem ganzen Land teuer zu stehen kommen: Zuerst werden die Nachtclubs betroffen sein, woraufhin all jene an die Reihe kommen, die mit Kund*innenarbeiten und als potenziell gefährliche Überträger*innenr des Virus eingestuft werden. Verschont werden in dieser Phase Rentner*innen und Rentner, welche im öffentlichen Diskurs als gut und gehorsam charakterisiert werden, wogegen man junge Menschen als großes Problem bezeichnet. Dies mag auch nicht verwundern, da in der jüngeren Bevölkerung der Virus-Boykott am stärksten ausgeprägt war, während die Älteren allesamt für dieselben jungen Menschen bzw. für die Serbische Fortschrittspartei stimmten, wie es ihnen in den Wahlkampfslogans empfohlen wurde. Diese Dialektik der Fortschrittspartei nahm maßgeblichen Einfluss auf die epidemiologische Kurve nach dem 21. Juni und auf die öffentliche Stigmatisierung der Schuldigen der neuen Welle, aber nicht die von Corona, , sondern des Widerstands gegen Vučić und seine Clique.

POST FESTUM:

Gestern, am 7. Juli um 18 Uhr, meldete sich nach einigen Tagen des Anstiegs der Zahl an Infizierten und an Covid-19 verstorbenen Personen Präsident Vučić zu Wort. Dabei tadelte er rigide alle Belgrader*innen und bezichtigte sie eines verantwortungslosen Verhaltens, weswegen er sich dazu entschlossen habe, vor allem und gerade in Belgrad neue radikale Maßnahmen zu ergreifen. Er kündigte eine rigorose Ausgangssperre von Freitagabend bis Montagmorgen und ein Verbot von Zusammenkünften von mehr als fünf Personen in geschlossenen Räumen an. Dies rief bei den Bürger*innen eine Welle der Empörung hervor, die in abendlichen Demonstrationen vor dem serbischen Parlament mündete. Organisiert über soziale Netzwerke versammelten sich Menschen, um ihrer Empörung nach der Rede von Präsident Vučić Ausdruck zu verleihen. Im weiteren Verlauf der Kundgebung kam es zu immer heftigeren Zusammenstößen mit der Polizei, die äußerst brutal auf die Proteste reagierte und mehr Tränengas verschoss, Personen verprügelte und inhaftierte, als bei irgendeiner anderen Demonstration seit dem 5. Oktober 2000 im Zuge des Sturzes von Slobodan Milošević. Die regierungstreue Presse ist seit heute Morgen voll von Artikeln über Gewalt von Hooligans, während die eigentlichen Proteste der Bürger*innen sowie die übermäßige Anwendung von Gewalt seitens der Polizei nirgendwo Erwähnung finden.

Der aufreibende Kampf erfährt also eine Fortsetzung, und es erhebt sich die Frage, wer aus den Reihen der Opposition die Energie des bürgerlichen Ungehorsams zu kanalisieren vermag

Der aufreibende Kampf erfährt also eine Fortsetzung, und es erhebt sich die Frage, wer aus den Reihen der Opposition die Energie des bürgerlichen Ungehorsams zu kanalisieren vermag – rechte oder die linke Kräfte. Wir haben gestern Abend die Macht rechter Sympathisant*innen gesehen, zugleich aber auch die Botschaften der Linken vernommen (etwa von Seiten der Organisation „Ne davimo Beograd“). Die Energie ist da, es bleibt bloß die Frage, wem es gelingen wird, die Gründe für die Proteste politisch zu artikulieren und die Menschen hinter sich zu versammeln.

Dies ist kein Angriff auf das Parlament, sondern eine Verteidigung der Rechte der Bürger*innen auf Freiheit und Demokratie

Dies ist kein Angriff auf das Parlament, sondern eine Verteidigung der Rechte der Bürger*innen auf Freiheit und Demokratie, die vom Präsidenten unter dem Vorwand von Wahlen und seiner Corona-Politik ausgesetzt wurden, und so die gegenwärteig Situation verursachte.

Übersetzung aus dem Serbischen von Arno Wonisch

Foto: (c) Branimir Balogović – via: unsplash