PATRIARCHALE GEWALT – WIEDER FEMIZID IN GRAZ

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Mann erschießt Frau in Anwaltskanzlei

Es ist wieder geschehen. Eine 23jährige Frau wurde letzten Freitag von einem 29jährigen Mann ermordet. Er kam mit einem Gewehr bewaffnet an ihren Arbeitsplatz, eine Grazer Anwaltskanzlei, und tötete sein Opfer mit drei Schüssen, danach beging er Suizid. Die gesellschaftliche Dimension patriarchaler Gewalt wird immer noch weitgehend privatisiert – und damit der Schutz potentieller Opfer verhindert.

Blaulicht, Straßensperren, Hubschrauberkreisen, Cobra-Beamte an Häuserecken – das polizeiliche Großaufgebot in der Grazer Innenstadt ist letzten Freitag nicht oder vielmehr nicht nur dem Besuch des Innenministers zur Verkündung der sogenannten „Schutzzone“ Im Volksgarten geschuldet. Während urbaner, pluraler, öffentlicher Raum einmal mehr zum Sicherheitsrisiko stilisiert wird, zeigt sich ein paar Straßen weiter die Eskalation einer tagtäglichen Gefahr, die selten öffentlich thematisiert wird, aber umso öfter tödlich ist. So auch jetzt. Kurz vor Mittag löst die Meldung von Schüssen, abgegeben in einer Anwaltskanzlei im vierten Stock eines Hauses in der Kaiserfeldgasse, den Großeinsatz aus. Ein Mann hat in der Kanzlei aus einer „Langfeuerwaffe“ auf eine Frau geschossen, sie getötet und danach sich selbst erschossen. Die Polizei geht nicht von einer Zufallstat aus. Es ist damit in diesem Jahr der mutmaßlich 14. Femizid in Österreich.

Von der Privatisierung zur Dehumanisierung

Umgehend wird in fast allen Medien von einer „Beziehungstat“ berichtet. Erst in der Krone, kurz darauf übernimmt der Grazer die Bezeichnung, auch im Standard und in der Kleinen Zeitung ist sie zu lesen, in der Zeit im Bild im ORF zu hören, sie steht auch auf der Website der Stadt Graz. So wird zum einen auf Basis von kaum vorhandenen Informationen von einer Paarbeziehung zwischen Täter und Opfer ausgegangen, zum anderen wird die Verantwortung vom Täter zur Beziehung und etwaigen daraus resultierenden Emotionen verschoben. „Es findet eine ständige Verprivatisierung des Problems statt, die Mordopfer hatten eben den falschen Ehemann / Vater / Bruder / Arbeitskollegen / Sohn etc. Nach dem Motto: Pech gehabt. Es geht jedoch darum, zu begreifen, dass all die Frauen nicht nur Opfer von einem einzelnen Täter sind, sondern von einem gesellschaftlichen Phänomen“, so Petra Leschanz, Juristin beim Frauenservice Graz. „Es muss endlich als kollektiver Auftrag betrachtet werden, gegen Femizide vorzugehen.“

Ein Femizid ist die vorsätzliche Tötung einer Frau durch einen Mann aufgrund ihres Geschlechts bzw. aufgrund von ,Verstößen‘ gegen die traditionellen sozialen und patriarchalen Rollenvorstellungen, die Frauen zugeschrieben werden. Femizide gehören daher zu den Hassverbrechen.

Ein Femizid ist laut AÖF, dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser, „die vorsätzliche Tötung einer Frau durch einen Mann aufgrund ihres Geschlechts bzw. aufgrund von ,Verstößen‘ gegen die traditionellen sozialen und patriarchalen Rollenvorstellungen, die Frauen zugeschrieben werden. Femizide gehören daher zu den Hassverbrechen. Die Definition geht auf die südafrikanische Soziologin und Autorin Diana Russell zurück, die 1976 eine der ersten war, die den Begriff verwendete“. Femizide sind Teil eines patriarchalen Macht- und Kontrollsystems, das männliche Dominanz und Besitzansprüche als naturgegeben rechtfertigt, ergo die Basis für die Dehumanisierung, die Entmenschlichung, von Frauen*.

Es ist ein patriarchales Problem: Bei Männern wird toleriert, wenn sie mit Gewalt reagieren.“

Die patriarchale Prägung beginnt bereits in jüngsten Jahren, in der unterschiedlichen Behandlung von Kleinkindern, in der immer noch häufig traditionellen Rollenverteilung der Eltern in der Kleinfamilie. Es beginnt bei Muttertagsgedichten, wie sie auch an Grazer Kindergärten eingeübt werden, in denen die Mama „immer da“ ist, aber sonst keine Eigenschaften hat, Papa jedoch ist „Supermann, der alles kann“. Mama ist in erster Linie eines: verfügbar. Immer. Unter allen Um- und Zuständen. Wenn Frau sich dieser Verfügbarkeit entzieht, läuft sie Gefahr, Opfer von Gewalt oder gar Mord zu werden.

In Österreich ist laut AÖF jede dritte Frau von körperlicher und/oder sexueller Gewalt innerhalb oder außerhalb von intimen Beziehungen betroffen, nahezu 35 % der weiblichen Bevölkerung. 26 Frauen wurden heuer bereits Opfer mutmaßlicher Mordversuche bzw. schwerer Gewalt. Monatlich werden in Österreich etwa drei Frauen ermordet. Im Jahr 2023 gab es einen neuen Höchststand von 42 Morden an Frauen, das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren: 2014 wurden 19 Frauen umgebracht. Beim überwiegenden Teil der Morde an Frauen besteht ein Beziehungs- oder familiäres Verhältnis (z. B. Partner, Ex-Partner oder Familienmitglied) zwischen Täter und Opfer. Österreich zählt zu den EU-Ländern mit der höchsten Rate an Femiziden.

Wenn Medien nach wie vor von „Familientragödien“, „Ehedramen“, womöglich noch „Mord aus Liebe“ oder eben „Beziehungstaten“ berichten, agieren sie durch diese Legitimierung als Tragsäulen des bestehenden patriarchalen Gesellschaftssystems – und kommen ihrer genuinen Aufgabe, nämlich zu informieren, nicht nach. Im Gegenteil, sie betreiben – angesichts des aktuellen Wissensstandes ganz bewusst – Fehlinformation.

Die Weigerung, diese Morde als gesellschaftliches Phänomen zu begreifen und sich entsprechend damit auseinander zu setzen, ist so hartnäckig wie die jahrhundertealte Diskriminierung von Frauen* selbst und es ist im Interesse derer, die von der ungleichen Machtverteilung im System profitieren, es dabei zu belassen. Auch und gerade mit Gewalt.

Verdrängen, um zu funktionieren

Laut Brigitte Haller vom Institut für Konfliktforschung wurden 395 aller Tötungen und Tötungsversuche zwischen Jänner 2010 und Dezember 2020 in Österreich von Männern begangen, nur 44 von Frauen (10 blieben ungeklärt). Männer vollenden den Versuch auch häufiger (275 zu 25 Tötungen, 20 ungeklärt). Innerhalb der Familie machten Männer 96,3 % der Täter*innen aus. Dem gegenüber wird weibliche Gewalt in den Statistiken übertrieben abgebildet, findet Petra Leschanz. „Wenn bei mir Frauen in die Beratung kamen, die selbst wegen Gewaltausübung weggewiesen waren und angeklagt wurden, stellte sich mehr als einmal heraus, dass es sich entweder um Verteidigungsgewalt handelte oder eine Reaktion auf über viele Jahre selbst erlebte Gewalt. Ich habe den Eindruck, dass auch bei der Strafverfolgung patriarchale Rollenzuschreibungen unbewusst eine Rolle spielen. Frauen, die (zurück)schlagen, fallen aus der Rolle und laufen Gefahr, für Taten bestraft zu werden, für die Männer eher straflos ausgehen“, so die Beobachtung von Leschanz. Sie betont: „Es ist ein patriarchales Problem: Bei Männern wird fast davon ausgegangen , dass sie mit irgendeiner Form von Gewalt auf etwaige Kränkungen reagieren – und Femiziden gehen fast immer irgendwelche vom Täter als  ‚Kränkung‘ empfundene Situationen voraus.“ Gehäuft registriert sie mittlerweile auch Fälle von Femiziden, in denen betagte Ehemänner ihre pflegebedürftigen Frauen töteten. „Als Frau bist du also in keinem Alter sicher vor einem Femizid – selbst nach Jahrzehnte langer Ehe nicht.“

Dass es überhaupt Zugang zu diesen Daten und damit die Möglichkeit gibt, solche Zahlen sowie deren Hintergründe wie in der Studie von Haller zu erforschen, ist laut Leschanz eine Seltenheit. NGOs wie der AÖF müssen Falllisten mühsam aus Medienberichten erstellen, denn behördliche Statistiken fehlen zumeist. Im übrigen werden auch professionellen Einrichtungen solche Daten nicht übermittelt. Doch es wäre gerade in der Gewaltprävention extrem wichtig, dass Organisationen, die mit potentiellen Opfern arbeiten, konsequent und vertiefend informiert werden, welche Dynamiken zu den Femiziden geführt haben. „Es vergeht kein Tag, an dem bei uns in der Frauenberatung nicht eine Frau Unterstützung sucht und im Laufe des Gesprächs, sobald sich eine gewisse Vertrauensbasis gebildet hat, Gewalterfahrung zutage tritt“, so Leschanz. „Daher ist es so wichtig, dass die Gefahrensituation von den Beraterinnen eingeschätzt werden kann, gerade wenn sie der betroffenen Frau selbst nicht bewusst ist. Denn je länger eine solche Situation, bis hin zur Todesgefahr, andauert, je weniger wird diese als akut eingeschätzt bzw. überhaupt als solche wahrgenommen. Denn der Mensch funktioniert nicht mehr in einer andauernden Akutsituation. Also wird die Bedrohung massiv verdrängt“, erläutert Leschanz. Ähnlich dem Überleben von Menschen in Kriegs- und Krisengebieten. Dazu kommt, dass Frauen oft für Kinder oder andere Personen in der Familie verantwortlich sind – und damit erst recht funktionieren müssen.

Hierarchie der Gewalt

Zu den größten Risikofaktoren für Partnerschaftsmorde zählt Haller den Zugang zu Schusswaffen, unmittelbar gefolgt von vorangegangenen Bedrohung des Opfers mit einer Waffe, Würgen, Gewaltandrohung sowie sexuelle Nötigung bzw. Vergewaltigung. Auch der Täter in Graz war legal im Besitz des Gewehrs, mit dem er in die Kanzlei kam und dreimal auf sein Opfer feuerte. Die Waffe hatte er erst drei Tage vor dem Mord erworben.

Nahezu zeitgleich zu dem Femizid in Graz wurden auch in Deutschland zwei Frauen von ihren Partnern getötet. In Gelsenkirchen wird eine 20-jährige Frau von ihrem Ehemann, der auch der Vater ihrer drei Kinder ist, erstochen, er flieht und wird schließlich in Belgien verhaftet. In Landsberg am Lech wird die Leiche einer 34-jährigen Frau gefunden, die getrennt von ihrem Ehemann lebte. Die Ermittlungen ergeben, dass dieser erst seine Frau erstochen und dann Suizid begangen hat. In Deutschland wurden letztes Jahr 155 Femizide verübt, alle vier Minuten erlebt eine Frau Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner.

„Man möchte heute nur mehr schreien“, postet der Österreichische Frauenring auf X (vormals Twitter) betroffen und wütend.

Der Täter in Graz war 29 Jahre alt, nicht vorbestraft, sein Opfer wurde nur 23 Jahre alt und arbeitete in der Anwaltskanzlei als Sekretärin. Offenbar standen sie – entgegen all den Verlautbarungen, die reflexartig eine „Beziehungstat“ postulierten – in keiner partnerschaftlichen Verbindung. Mutmaßungen zufolge waren sie womöglich ehemalige Arbeitskolleg*innen bzw. suchte die Ex-Frau des Täters anwaltlichen Rat, die Sekretärin kam ihm bei seiner Mordabsicht in die Quere und wurde selbst zum Opfer.  „Personen, die sich zwischen den Gewalttäter und sein ‚Zielscheibe‘ stellen, weil sie die betroffene Frau schützen und unterstützen möchten, unterschätzen oft, wie schnell sie selbst zum Angriffsziel werden können.“ Wichtig ist, für den Täter als unterstützende Person möglichst unsichtbar zu bleiben – Selbstschutz geht vor. Gleichzeitig wird der Täter nicht vorgewarnt, sodass wirksam Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden können, sei es, der Betroffenen Unterschlupf zu bieten, Schritte zur Lösung aus der Beziehung anzustoßen oder im Notfall die Einsatzkräfte zu alarmieren. Das Frauenservice bietet gezielt Zivilcouragetrainings an, denn: Gewalt ist eben keine Privatsache.

Es ist übrigens auffällig, dass bei keinem der registrierten Femizide ein weiterer Mann zu Schaden gekommen ist, obwohl immer wieder auch Doppelmorde – in denen etwa Partnerin und Tochter die Opfer sind – verübt werden. „Gewalttäter haben Hierarchien im Kopf, wie eine Hackordnung. Als stark konstruierte Personen werden nicht angegriffen, Frauen wiederum gelten in diesen Mustern als schwach und damit als Ziel“, erklärt Leschanz.

Say their names

Am frühen Nachmittag, kaum zwei Stunden später, ist rund um den Tatort abgesehen von einigen Polizist*innen und zusammenpackenden Kameraleuten kaum mehr etwas Außergewöhnliches zu bemerken. Die Gastgärten der Cafés sind wieder voll, die Geschäfte geöffnet, die Tram klingelt. Sämtliche Berichte weisen darauf hin, dass fast alle Absperrungen wieder aufgehoben sind und es keine Verkehrsbehinderungen mehr gäbe.

„Die Opfer von Femiziden geraten ganz schnell in Vergessenheit, hier gibt es keine Gedenkkultur“, stellt Petra Leschanz fest. „Falsche Informationen, die bei Bekanntwerden der Tat aus Mangel an verfügbaren Details und Sensationsgier verbreitet werden, werden später viel zu selten öffentlich richtiggestellt. Das ist für die Hinterbliebenen belastend.“

Obduktionsergebnisse werden zu Wochenbeginn erwartet. „Bis alle Details geklärt sind, wird es aber noch eine ganze Weile dauern“, ist aus Polizeikreisen zu vernehmen. Wie lange es wohl noch braucht, bis der Schutz von Frauen* und einer ganzen Gesellschaft vor patriarchaler Gewalt endlich Priorität hat? Die Maßnahmen dafür könnte der Innenminister auch gern im Volksgarten verkünden.

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Bild: Im vierten Stock dieses Hauses in der Grazer Kaiserfeldgasse wurde die junge Frau an ihrem Arbeitsplatz, einer Anwaltskanzlei, vom Täter erschossen, der daraufhin Suizid beging. Foto (c) Evelyn Schalk

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Hilfe in Krisensituationen:

  • Steirisches Hilfetelefon rund um Beziehungsgewalt 0800 20 44 22.
  • Frauenhelpline. Anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar unter 0800 222 555.
  • Gewaltschutzzentrum Steiermark. Erreichbar unter der Telefonnummer: 0316/ 77 41 99.
  • Verein Frauenhäuser Steiermark. Notruf rund um die Uhr erreichbar: 0316/ 42 99 00 (auch per WhatsApp).
  • Männernotruf Steiermark. 0800/246 247.
  • Männerinfo. 0800-400 777.
  • Psychiatrisches Krisentelefon PsyNot. 0800-44 99 3.
  • Sie sind in einer verzweifelten Lebenssituation und brauchen Hilfe?
  • Sprechen Sie mit anderen Menschen darüber. Hilfsangebote für Personen mit Suizidgedanken und deren Angehörige bietet das Suizidpräventionsportal des Gesundheitsministeriums. Unter www.suizid-praevention.gv.at finden sich Kontaktdaten von Hilfseinrichtungen in Österreich.
  • Die Telefonseelsorge ist unter der kostenlosen Telefonnummer 142 rund um die Uhr als vertraulicher Notrufdienst jeden Tag des Jahres erreichbar.
  • Die Ö3-Kummernummer ist unter 116 123 täglich von 16 bis 24 Uhr und ebenfalls anonym erreichbar.
  • Auf der Website www.bittelebe.at finden Angehörige/Freunde von Menschen mit Suizidgedanken Hilfe.
  • Rat auf Draht ist die österreichische Notrufnummer für Kinder und Jugendliche. Die Nummer ist unter 147 rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar.
  • Polizeinotruf. 133