AUSSPERREN, ABER WIE?

Hintergrund

Nach dem Willen der Koalition sollen behinderte Kinder wieder in Sondereinrichtungen

Auf der einen Seite steht die Vernunft, die Erfahrung, die Wissenschaft und – in Gestalt der Uno-Vollversammlung – so gut wie die ganze Welt. Auf der anderen Seite stehen die FPÖ und der größere Teil der ÖVP. Dazwischen steht ein Minister. Der Ausgang des Konflikts, darf man vermuten, wird zum Lackmustest für Österreichs konservative Revolution.

Es geht um das Schicksal einer stillen, aber geglückten Reform: 97 Prozent aller Kinder, die wegen einer Behinderung „sonderpädagogischen Förderbedarf“ haben, gehen in Kärnten in eine ganz normale Regelschule. In der Steiermark sind es 85 Prozent. Beschwerden gegen das „inklusive“ System gibt es so gut wie keine. Startschwierigkeiten sind lange überwunden, die befürchteten Elternrevolten blieben aus. Grummeln und institutioneller Widerstand verschwanden zwar nie, konnten sich aber kaum auf konkrete Kritikpunkte berufen. Das müssen sie jetzt aber auch nicht mehr. „Erhalt und Stärkung des Sonderschulwesens“ steht stichwortartig im Regierungsprogramm vom vergangenen Dezember. Die Attacke auf das inklusive Modell kommt als Kampf für  „Wahlfreiheit“ daher:

Die Attacke auf das inklusive Modell kommt als Kampf für „Wahlfreiheit“ daher

Eltern, so das Wording, sollen selbst entscheiden dürfen, ob ihr behindertes Kind eine Regel- oder eine Sonderschule besuchen soll. In der Realität aber entscheiden immer die Schulen: Regelschulleiter*innen, die sich mit einem behinderten Kind nicht belasten wollen, weisen beredt auf die „großen Schwierigkeiten“ im eigenen Hause und die „viel besseren Möglichkeiten“ in der nächstgelegenen Sonderschule hin.

Was die vier Wörter im Regierungsprogramm genau bedeuten, kann zwar noch niemand wirklich sagen. Wohl aber, wie sie hineingekommen sind: Es war der Unterhändler Walter Rosenkranz, der auf der Formulierung bestand. Rosenkranz ist gänzlich fachfremd und als Klubchef der FPÖ längst wieder in abstraktere Sphären entschwunden. Jetzt aber ist ein ganzes System dazu verdammt, sich an seinen vier hinterlassenen Wörtern abzuarbeiten.

Dass behinderte Kinder vom Regelschulsystem ausgesperrt und dafür in Sonderschulen nicht konzentriert, aber doch zusammengefasst werden sollten, gilt weltweit als überholt.

Dass behinderte Kinder vom Regelschulsystem ausgesperrt und dafür in Sonderschulen nicht konzentriert, aber doch zusammengefasst werden sollten, gilt weltweit als überholt.

Vor mehr als einem Jahrzehnt beschlossen die Vereinten Nationen, unter ihnen die österreichische, ihre „Behindertenrechtskonvention“ und, im Artikel 24, die Schaffung eines „integrativen Bildungssystems auf allen Ebenen“. Österreich hat die Konvention ratifiziert. Seit 2008 ist sie in Kraft.

Damit die Bestimmungen nicht Papier bleiben, reist alle fünf Jahre ein international besetztes Komitee zur „Staatsprüfung“ an, prüft, schreibt, einen Bericht. Nächstes Jahr nun schlägt die Stunde der Wahrheit. Verstöße sind vor dem Verfassungsgerichtshof justiziabel. Steigt Österreich aus? Auf Landesebene machen FPÖ-Leute schon klar, dass sie den Konflikt zu führen gedenken. Ob die inklusive steirische Schulpolitik nicht dem Regierungsprogramm widerspreche, wollte etwa eine FPÖ-Abgeordnete in Graz von der Landesregierung wissen. Eine düstere Drohung – als wäre die dortige ÖVP-SPÖ-Koalition mehr an vage Wiener Regierungspläne als an ihre geltenden Gesetze gebunden.

Zwar war schon die SPÖ-geführte Regierung in dem Sektor keine Freundin gründlicher Lösungen und vermied, die eigentlich fällige Auflösung der Sonderschulen auch nur zu fordern, geschweige zu forcieren. Aber sie schuf immerhin drei „Modellregionen“ – in den drei Bundesländern Kärnten, Steiermark, Tirol, aus denen kein Widerstand drohte – und verpflichtete sich in einem „Aktionsplan“, die Inklusion von behinderten Kindern bis 2020 auf das ganze Land auszudehnen. Bei der „Inklusionsquote“ – dem Anteil der behinderten Kinder, die in Regelschulen gehen – lag die Steiermark hinter der kanadischen Provinz New Brunswick schon auf Platz 2. Inzwischen sind acht europäische Staaten, an der Spitze Italien, an der einstigen Musterprovinz vorbeigezogen. Alles sollte langsam besser werden, war die Denke im SPÖ-geführten Bildungsministerium. Aber es sollte möglichst niemand merken.

Lange ging die Taktik gut. Mit dem Wechsel der politischen Windrichtung kam dann aber Widerstand von Sonderschuldirektorinnen, die um ihre Institution fürchten. In mehreren Bundesländern regten sie Unterschriftenaktionen an. „Schauen Sie mal: Das ist dafür, dass die behinderten Kinder richtig gefördert werden“, erklärten Werber vor einem Grazer Supermarkt gutwilligen, aber ahnungslosen Passant*innen. Die unterschrieben. Mei, die armen Kinder, so die gängige Reaktion. Da muss man was tun!

Wieder fast unbemerkt von der Öffentlichkeit war 2013 in ganz Österreich die Ausbildung zur Sonderpädagog*in abgeschafft worden – eine wichtige Weichenstellung zu einem inklusiven System. Seither werden nur noch Lehrer*innen für Schulstufen ausgebildet, nicht mehr für Schultypen: Sonderpädagogik ist – passend zum künftigen, integrativen Schulsystem – jetzt für alle angehenden Lehrkräfte Pflichtfach. Auch damit soll Schluss sein: „Wiedereinführung der sonderpädagogischen Ausbildung“ steht ausdrücklich im Regierungsprogramm.

Der „Aktionsplan“ für mehr Inklusion gilt allerdings noch immer, bestätigt eine Sprecherin von Heinz Faßmann, der als neuer Bildungsminister die Verantwortung für die Umsetzung des Plans trägt. 2020 wird dann „evaluiert“. Hinter den Kulissen hat schon ein gewaltiges Tauziehen begonnen. Erstes Feld der Auseinandersetzung ist die bevorstehende, noch von der alten Regierung beschlossene Reform der Schulverwaltung. Dürfen Sonderschulen zum Beispiel bei den „Clustern“ mitmachen, die Neue Mittelschulen, Gymnasien und berufsbildende Schulen künftig miteinander bilden sollen? Und wer entscheidet in Zukunft, ob ein Kind auf „sonderpädagogischen Förderbedarf“ geprüft wird?

Nachdem er schon bei der Wiedereinführung von Ziffernnoten und bei den Sonderklassen für Migrant*innenkinder das Kopfschütteln der Fachwelt auf sich zog, muss Faßmann bei weiteren Zugeständnissen um seinen Ruf in Wissenschaft und Verwaltung fürchten.

Nachdem er schon bei der Wiedereinführung von Ziffernnoten und bei den Sonderklassen für Migrant*innenkinder das Kopfschütteln der Fachwelt auf sich zog, muss Faßmann bei weiteren Zugeständnissen um seinen Ruf in Wissenschaft und Verwaltung fürchten.

Anfang des Monats berief der Minister daher – ganz im modernen Verwaltungssprech – ein „Consulting Board“ für alle Fragen rund um die Inklusion. Zwei der Berater nannte Faßmann öffentlich: den Lebenshilfe-Präsidenten Germain Weber und den Ex-ÖVP-Politiker Franz Joseph Huainigg, beides entschiedene Befürworter des inklusiven Systems. Das zweite Feld ist eröffnet.

 

 

Foto: (c) Lebenshilfe Graz