DIE RECHTEN UND DIE ROTEN

Hintergrund, Interview

Was Sozialdemokratie ist oder einmal war, geht im aktuellen Streit zwischen Liberalen und Rechtsnationalisten weitgehend unter. Christian Kern, Vorsitzender einer der immer noch erfolgreichsten sozialdemokratischen Parteien Europas, will Gewinner und Verlierer der Globalisierung wieder unter einen Hut bringen.

TATSACHEN.AT: Überall in Europa sind die Sozialdemokraten und Sozialisten auf dem Rückzug. In Österreich haben sie die Macht verloren, ihren Stimmenanteil aber immerhin halten können. Machen Sie etwas richtig, das andere falsch machen?

KERN: Die klassischen Milieus, auf die sozialdemokratische Parteien sich gegründet haben, lösen sich auf. Auch deren Identitäten. Ein gut ausgebildeter Industriearbeiter mit technischem Hintergrund verdient mitunter mehr als ein Akademiker, der sich oft als Crowdworker oder Freelancer verdingen muss. Beide definieren sich kaum mehr über ihren sozialen Status. Unsere Aufgabe ist es, neue Wählergruppen hinzuzugewinnen. Das ist uns gar nicht so schlecht gelungen.

Wie?

Von der einen oder anderen Schwesterpartei hat uns wohl unterschieden, dass wir nicht darüber gesprochen haben, wie der Wohlstand verteilt werden sollen, sondern auch darüber, wie wir ihn erwirtschaften wollen.

Bei den Industriearbeitern ist dafür die ultrarechte FPÖ die stärkste Kraft.

Ja, aber das sind sie seit 20 Jahren! Eine ganze Generation von Industriearbeitern hat noch nie sozialdemokratisch gewählt. Das Identitätsangebot, das ihnen die Rechtspopulisten unterbreiten, ist kulturell definiert, nicht mehr über die soziale Stellung.

Und das ist offenbar attraktiv.

So attraktiv, dass auch ehemals Konservative jetzt diese extrem rechten, völkischen Positionen inhalieren. Das macht sie dann als Bündnispartner noch schwieriger für uns.

Was wäre die Antwort? Ein anderes kulturelles Identitätsangebot? Oder gar keines?

Unser Gesellschaftsmodel ist ein inklusives: Wir sind für einander da! Das ist auch eine Emotion, eine die sehr wirksam werden kann, auch wenn sie in der Flüchtlingskrise geschwächt wurde. Sozialdemokratie ist immer ein Lebensgefühl.

Und eine Emotion, die in allen Milieus wirksam wäre?

Ja. Aber offen sind die Menschen natürlich nur dann dafür, wenn wir auch ihre Interessen schützen.

Die der Verlierer?

Die der Verlierer und die der Gewinner. Schutz und Chance ist unsere Formel.

Aber ist es nicht gerade der Gegensatz zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung, der zurzeit bei allen Wahlen verhandelt wird? Und nicht mehr der zwischen Kapital und Arbeit?

Absolut. Aber unsere Aufgabe war immer der Zusammenhalt und nicht die Spaltung.

Droht die Sozialdemokratie bei dem Gegensatz nicht nach beiden Seiten zu verlieren? Wo steht sie? 

Wir waren immer eine internationalistische Partei, wir sind klar pro-europäisch. Auf der anderen Seite darf man nicht den Blick für die Lebensrealität der Menschen verlieren. Nach sechs, sieben Jahren Reallohnverlusten im Gefolge der Finanzkrise haben Menschen das Gefühl, dass sie nicht mehr am Wohlstand teilhaben. Robotisierung und künstliche Intelligenz drohen in der Geschichte der Menschheit die größte Umverteilung von unten nach oben zu werden.

Dann aber auch mit einer extremen Polarisierung zwischen Gewinnern und Verlierern…

Eben. Und es wird keine andere Kraft sich darum kümmern, dass alle mitkommen, als die Sozialdemokratie. Deshalb sehe ich unsere Zukunft auch voller Optimismus.

Es wird keine andere Kraft sich darum kümmern, dass alle mitkommen, als die Sozialdemokratie. Deshalb sehe ich unsere Zukunft auch voller Optimismus.

Gewinner und Verlierer zusammenzubringen versucht ja auch die gegenwärtige Rechtskoalition in Ihrem Land. Nur eben unter nationalem Vorzeichen: Österreich zuerst! Was aber, wenn man weder klar auf der Seite der Verlierer, noch klar auf der Seite der Gewinner stehen und beide auch nicht durch Nationalismus zusammenschweißen will?

Rechtspopulisten, die die Interessen der Vielen vertreten, sind so wahrscheinlich wie eine Marienerscheinung am Kiez. Ich glaube nicht daran, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Wir müssen ein System, das alle gesellschaftlichen Bereiche zu dominieren trachtet, wieder unter Kontrolle bringen. Minus Elon Musk und dem Blackrock-Chef kenne ich keinen Startup-Unternehmer, der den Wild-West-Kapitalismus toll findet. Wir sind dem Gemeinwohl verpflichtet. So muss auch unsere Politik ausschauen.

Rechtspopulisten, die die Interessen der Vielen vertreten, sind so wahrscheinlich wie eine Marienerscheinung am Kiez. Ich glaube nicht daran, dass jeder seines Glückes Schmied ist.

Gestritten wird aber über die Flüchtlingskrise.

Ja, das ist der Elefant im Raum. Und da erzählen einem die Spin-Doktoren und die Framing-Spezialisten: Über Migration und Integration darf man gar nicht reden, denn das ist das Thema für die Rechtspopulisten. Ich halte das für völligen Unsinn. Wenn wir zu Migration und Integration deutliche Antworten vermeiden, dann ist das ja auch eine Antwort. Sie lautet: Wir nehmen das Thema nicht ernst! Daher brauchen wir da eine klare sozialdemokratische Position.

Und die wäre?

Einer meiner Vorgänger hat es einmal auf die Formel gebracht: Integration vor Zuwanderung. Allerdings muss unsere Haltung eine anständige sein, sie muss im Einklang stehen mit der Menschenrechtskonvention. Es kann uns auch nicht egal sein, was mit den Menschen in den Lagern in Libyen geschieht.

Besteht denn zwischen Abschottung und Integration nicht eine gefährliche Spannung? Je mehr man abschottet, desto schwerer wird auch das Integrieren nach innen.

Wir haben jedenfalls die Integration lange nicht ernst genug genommen und gedacht, die Leute werden sich am schönen Gebirgspanorama und der frischen Luft erfreuen. Der jetzige Kanzler Sebastian Kurz war sechs Jahre lang zuständig für Integration. Da gab es bestenfalls homöopathische Fortschritte. Jetzt kürzt seine Regierung die Mittel für die Integration. Das wird die Probleme vergrößern. Mein Verdacht ist: Die Rechtspopulisten wollen sie gar nicht lösen. Sie brauchen sie für ihr politisches Spiel.

Vielleicht haben die Rechten einfach verstanden: Man mag die Ausländer, oder man mag sie nicht. Egal ob drinnen oder draußen.

Abschottung ist bei der geografischen Situation Europas ja sowieso kein Modell. Wir brauchen Zuwanderung, aber wir brauchen auch Ordnung. Leider haben wir in Europa eine solche Ordnung noch nicht gefunden, weil die Partikularinteressen einzelner, besonders der Visegrád-Staaten, gemeinsame Aktionen verhindert haben.

Was wäre die Lösung? Mehr Abschiebungen? Rechtsmittel für abgelehnte Asylbewerber einschränken?

Der Rechtsstaat gilt für alle Menschen, ob Zuwanderer oder nicht. Aber wenn jemand keinen Aufenthaltstitel bekommen hat, wird man danach trachten müssen, dass er wieder zurückgeht.

Das zweite Rendezvous mit der Globalisierung ist für Länder wie Österreich oder Deutschland die Europäische Union. Kann es das Ziel sein, unsere nationalen Wohlfahrtsstaatsmodelle auf die europäische Ebene zu übertragen?

Es muss. In einem ersten Schritt geht es um gemeinsame Mindeststandards – bei der sozialen Absicherung, aber auch in der Steuerpolitik. Ich halte diesen Wettlauf nach unten für fatal. Und jetzt wollen die Briten sich auch noch verselbständigen und eine Art Singapur Europas werden! Das macht uns alle ärmer. Wir wollen an einem besseren Europa bauen, nicht an einem billigeren.

Sie spielen auf die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt an?

Wir stehen völlig zur Personenfreizügigkeit, aber wenn jemand in Deutschland, Österreich, Belgien arbeitet, dann muss er es zu den Bedingungen dieser Länder tun. Es geht nicht an, dass osteuropäische Firmen unsere Sozialstandards ständig unterfahren. Wenn Sie in Udine falsch parken, wird der lange Arm der Justiz Sie finden. Aber wenn Sie eine Firma gründen und zehn Arbeiter zu Dumpinglöhnen dorthin schicken, bleiben Sie ungeschoren.

Da werden die Osteuropäer sagen: Dann verlangen wir aber in anderen Fragen Solidarität!

Die bekommen sie reichlich. Der Scheck, den wir da jedes Jahr überweisen, ist ja nicht ganz ohne.

Unter dem Strich holt Österreich allerdings mehr aus den osteuropäischen Ländern heraus, als es hineinsteckt.

Klar haben wir enorm profitiert von der Europäischen Union. Aber hier geht es einfach um Fairness. Und die Attacken auf die Solidarität kommen ja auch aus den westlichen Ländern, wenn sie an die Steuerverschiebung denken: aus Irland, den Niederlanden, Luxemburg, Malta.

Müssen Sozialdemokraten eine Vision für die Zukunft Europas haben, etwa den europäischen Bundesstaat? Gerhard Schröder hat einmal gesagt: Irgendwann wird der Europäische Rat so etwa wie deutsche Bundesrat, das Europaparlament so mächtig wie der Bundestag, und aus der Kommission wird eine richtige Regierung.

Das werden wir so nicht mehr erleben. Aber es gilt wichtige Schritte zu machen. Erstens: die Demokratisierung vorantreiben und die Institutionen stärken. Jeder, der einmal eine Ratssitzung mitgemacht und die Diskussion dort erlebt hat, muss größte Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der europäischen governance hegen. Zweitens: Wir dürfen kein Nachtwächter-Europa sein. Wir haben in der EU Ziele für die Inflation, für das Budgetdefizit, aber keine für Arbeitslosigkeit und für Investitionen, und wir haben auch keine gemeinsame Steuerpolitik.

Wir dürfen kein Nachtwächter-Europa sein. Wir haben in der EU Ziele für die Inflation, für das Budgetdefizit, aber keine für Arbeitslosigkeit und für Investitionen, und wir haben auch keine gemeinsame Steuerpolitik.

Bloß wie kommt man dahin?

Ich schätze Emmanuel Macron sehr, weil er eine echte Vision vorlegt. Wir Sozialdemokraten sollten ihn unterstützen.

Sagt Österreichs Rechtsregierung auch.

Sagt sie, tut sie aber nicht. Sie zieht sich unter dem Deckmantel der Subsidiarität gerade aus gemeinsam europäischen Projekten zurück.

Wo finden Sozialdemokraten strategische Partner? In Österreich gab es lange das rot-schwarze Projekt, in Deutschland das rot-grüne, davor das sozialliberale. Was bietet sich heute an?

Das Parteiensystem wird sich weiter ausdifferenzieren, die Wähler immer mobiler werden. Man kann hoch gewinnen und auch das Gegenteil davon. Für uns Sozialdemokraten bietet das einen politischen Kosmos voller Chancen. Oder siehe Niederlande, den Sturz in Bedeutungslosigkeit. Das liegt in unseren eigenen Händen.

In den Niederlanden werden die Gewinner und die Verlierer der Globalisierung von verschiedenen Parteien vertreten. Wo sucht man sich da die Bündnispartner?

Die Sozialdemokratie hat den Anspruch, eine Volkspartei zu sein. Sie muss beide Seiten unter einen Hut bringen. Unsere Antworten in der Sozial- und Wirtschaftspolitik sind ja auch absolut mehrheitsfähig – in Österreich und darüber hinaus. Das Dilemma war, dass uns eben in der Migrationsfrage die Menschen nicht die besten Lösungen zugetraut haben.

Also: Die berühmte Mitte finden!

Ich würde die SPÖ eher etwas links von der SPD einordnen. Für meine Rede zum 1. Mai hätte ich auch auf einem deutschen Juso-Kongress Applaus bekommen, hat mir hier danach eine Juso-Delegation aus Deutschland erzählt. Ich habe das als Freundlichkeit aufgefasst.

In der Frage Staat oder Markt?

Wir akzeptieren die neoliberalen Dogmen nicht. Nicht der Staat verzerrt den Markt. Der Staat kreiert den Markt! Schauen Sie sich das Silicon Valley an, oder Israel: Was dort entstanden ist, ist durch staatliche Investitionen passiert. Mariana Mazzucato ist eine große Inspirationsquelle für mich.

Wir akzeptieren die neoliberalen Dogmen nicht.

… die italienisch-amerikanische Ökonomin, die für den unternehmenden Staat wirbt. Bloß muss man ja erst einmal die Macht haben, um deren Vision zu verwirklichen. Früher einmal konnte man einen Wähler nachts wecken, und er hätte gewusst, für welche drei Ziele die Sozialdemokraten stehen. Und heute?

KERN: Für ein starkes Europa, für faire Arbeit in digitalen Zeiten, für Investitionen ins Gemeinwohl wie Bildung, Gesundheit, Würde im Alter. Wir wollen weg von einer Gesellschaft, in der alles und jeder ein Preisschild hat. Aber das Wichtigste sind Glaubwürdigkeit und Vertrauen.