WIR SIND KEINE VERSUCHSKANINCHEN FÜR RISIKOKAPITALISTEN

Interview, Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise

Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 05

Der Umwelt- und Menschenrechtsaktivist Nnimmo Bassey im Interview mit Evelyn Schalk über Ölteppiche und tote Fische mitten in der Pandemie, die Gefahr nationalistischer Politik und rechter Macht sowie die Notwendigkeit internationaler Solidarität auf breiter Basis. Die fängt bei ihm mit dem Blick aus dem eigenen Fenster in Benin City, Nigeria, an.

TATsachen: Die Begrüßung „Wie geht es dir?“ sollte immer als echtes Interesse gemeint sein, aber sehr oft ist sie zu leeren Phrase geworden. In diesen Tagen wird die Erkundigung wieder viel ernster genommen. Ich möchte also auch dich zuallererst fragen, wie es dir geht und wo ich dich gerade erreiche?

Nnimmo Bassey: Die Frage „Wie geht es dir?“ hatte wohl nie zuvor eine tiefere Bedeutung als in dieser so herausfordernden Zeit. Viele sind dankbar, wenn sie diese Frage gestellt bekommen, weil sie auch bedeutet, dass jemand sich um dich kümmert und um dein Wohlbefinden besorgt ist. Es muss schwer sein für die, die niemanden haben, der sie fragt, wie es ihnen geht. Es stimmt, bis vor kurzem wurde die Frage meistens pro forma gestellt und Leute waren irritiert, wenn man ihnen daraufhin erzählt hat, wie es einem wirklich geht. Alles, was sie hören wollten, war „Ich bin okay, danke.“ Es tut mir leid, aber werde das werde ich dir nicht sagen. Nichts ist okay während dieser Pandemie. Es ist nichts normal, wenn es soviele Tote weltweit gibt und eine Atmosphäre so großer Angst herrscht.

Ich sitze zuhause in Benin City, Nigeria. Es gibt einen Lockdown hier, wenn auch keinen totalen. Ich kann auf die Straße gehen, aber ich muss eine Gesichtsmaske tragen. Ich treffe gerne Menschen, aber jetzt müssen wir „soziale Distanz“ üben. Diese soziale Distanz ist jedoch, wie du weißt, keineswegs so sozial! Wie auch immer, etwas Gutes hat der Lockdown trotzdem. Ich musste sehr viel Zeit zu Hause verbringen, das hat mir die Möglichkeit gegeben, mich rund um mein Haus genauer umzusehen und ich habe viele Vögel und andere Lebewesen in meiner Umgebung entdeckt, von denen ich bisher nicht einmal wusste, dass es sie hier gibt.

Du hast es schon erwähnt, soziale Distanz ist tatsächlich das Gegenteil von sozial. In einem Gedicht mit dem Titel The Age of Paradox hast du kürzlich u.a. über die internationale Ungerechtigkeit und enorme Ungleicheit geschrieben, die nun umso stärker sichtbar wird und furchtbare Auswirkungen angesichts dieser Pandemie-Situation zeitigen wird. Wie nimmst du angesichts dessen die Lage in Benin City, in Nigeria wahr und wie verortest du sie im Kontext globaler Entwicklungen?

Ungleichheiten und andere Ungerechtigkeiten sind sehr offensichtlich hier, ebenso weltweit. Die ersten, die auf die Krankheit getestet wurden, waren die Reichen und Mächtigen. Wir sehen auch hochrangige Politiker, die Gesichtsmasken von bester Qualität tragen, statt jenen, die im Gesundheitssystem arbeiten, vorrangigen Zugang darauf zu gewährleisten. Eigentlich könnten wir anderen auch alle Hals- oder Taschentücher über Mund und Nase tragen. Wir haben auch Fälle erlebt, wo Sicherheitsleute die Gelegenheit ausnützen, und im Zuge der Kontrollen des Lockdowns, grundlegende Rechte von Menschen verletzen, inklusive die von Arbeiter*innen (Ärzt*innen, Journalist*innen), die die Grundversorgung gewährleisten. Viele sind besorgt, der globalen Narrativ, wie schlimm die Pandemie Afrika treffen würde, könnte zu einer Situation führen, in der Menschen gezwungen werden, als medizinische Versuchskaninchen zu fungieren, selbst wenn die Krankheit hier nicht sehr verbreitet ist. Die weltweit grassierende Angst kann von rechten Regierungen in der Phase nach der Pandemie instrumentalisiert werden, um diskriminierende Maßnahmen umzusetzen und internationale Reisefreiheit massiv einzuschränken.

Viele sind besorgt, der globalen Narrativ, wie schlimm die Pandemie Afrika treffen würde, könnte zu einer Situation führen, in der Menschen gezwungen werden, als medizinische Versuchskaninchen zu fungieren, selbst wenn die Krankheit hier nicht sehr verbreitet ist.

Du siehst also im herrschenden Narrativ, dass Afrika von der Pandemie schwer getroffen werden könnte, eine Gefahr für die Verstärkung rassistischer Politik. Dieser Narrativ wird im Zuge der globalen Berichterstattung über die Pandemie massiv verbreitet. Siehst du angesichts dessen afrikanische Journalist*innen unterrepräsentiert in internationalen Medien? Davon abgesehen, denkst du es gibt eine Chance, die prognostizierte Katastrophe – durch den Mangel an Gesundheitsversorgung, Wohlstand etc. noch zu verhindern?

Es ist normal für Afrika, unterrepräsentiert zu sein, besonders wenn es nicht gerade eine Katastrophe gibt, die hierzulande passiert. Tausende sind bis vor kurzem in der DR Congo an Ebola gestorben, aber es wurde kaum darüber berichtet. Jetzt, da afrikanische Länder vorsorglich Schritte unternehmen, um die Krankheit aufzuhalten, würde man erwarten, dass westliche Medien diese mit Interesse beobachten und mit Verzögerungsstrategien vergleichen, die wir aus mächtigen Ländern kennen. Aber das ist nicht der Fall. Naja, ich würde mich nicht über die mangelnde Berichterstattung beklagen. Wir haben schon genügend schlechte Nachrichten!

Jetzt, da afrikanische Länder vorsorglich Schritte unternehmen, um die Krankheit aufzuhalten, würde man erwarten, dass westliche Medien diese mit Interesse beobachten und mit Verzögerungsstrategien vergleichen, die wir aus mächtigen Ländern kennen. Aber das ist nicht der Fall.

Wie ist es um die Rolle internationaler Konzerne bestellt? Gibt es einen Diskurs, wie diese zur Verantwortung gezogen werden können für die Folgen der Ausbeutung und der Schänden an Menschen und Umwelt, die sie über all die Zeit angerichtet haben? So hat z.B. Shell kürzlich eine „Betriebsstörung“ in Angiama gemeldet, durch die das ohnehin schon verschmutzte Wasser noch zusätzlich kontaminiert wurde. Wasser ist ohnehin eine knappe Ressource, deren Fehlen während besonders während des Lockdowns eine Katastrophe, die durch diese Verseuchung noch verschärft wird…

Die Verantwortungslosigkeit der multinationalen Konzerne hält an. Die Ölkatastrophe, die du erwähnst, wurde von der Bevölkerung in der Region am 27. März 2020 bemerkt. Shell hat den Ölaustritt, der als Folge eines technischen Defekts bestätigt wurde, am Tag darauf gestoppt. Die Reinigungsmaßnahmen waren planlos und der Fluss, aus dem die Leute Wasser holen, ist noch immer kontaminiert. Eine der Maßnahmen, diese Pandemie zu bekämpfen, ist regelmäßiges Händewaschen und generell umfassende Hygiene. Das ist für die betroffenen Gemeinden unmöglich.

Shell hat den Ölaustritt, der als Folge eines technischen Defekts bestätigt wurde, am Tag darauf gestoppt. Die Reinigungsmaßnahmen waren planlos und der Fluss, aus dem die Leute Wasser holen, ist noch immer kontaminiert.

Es gibt noch einen weiteren Vorfall an der Atlantikküste, in der Nähe von Sangana, wo tausende Fische verendeten und an die Küste gespült wurden. Man geht davon aus, dass Ölfirmen toxischen Müll im Meer entsorgt haben, der die Vergiftung der Wasserlebewesen zur Folge hatte. Gerade in einer Zeit, in der gesunde Ernährung für die Menschen besonders wichtig ist, verunmöglichen Ölkonzerne es ihnen, die am leichtesten zugängliche Quelle für Protein und Ertrag zu nützen. Das macht sie noch anfälliger für die Pandemie.

Es gibt viele solcher Geschichten. Es ist traurig!

Die Pandemie ist also ein Disaster auf vielen verschiedenen Ebenen. Regierungen haben darauf sehr nationalistisch reagiert, mit Grenzschließungen, Wettbieten um Schutzausrüstungen etc. Es gab kaum internationale Kooperation und sehr wenig bis gar keine Solidarität in einer Zeit, in der diese am drigendsten nötig wäre. Es hat sich sehr deutlich gezeigt, wie die enorme Macht von Konzernen, industrieller Landwirtschaft etc. vor allem auf den Rücken der Ärmsten und damit Gefährdetsten gebaut ist. Was bedeutet das für die Zukunft, wenn man bedenkt, dass wir immer noch relativ am Beginn dieses globalen Notstands stehen?

Noch während wir uns in diesem Ausnahmezustand befinden haben wir Zeit, Brücken über diese erzwungene soziale Distanz hinweg zu bauen. Diese Distanzierung muss beendet werden, sobald diese Notfallsituation vorbei ist. Regierungen müssen für ihre Untätigkeit während des Lockdowns zur Verantwortung gezogen werden. Wir können uns währenddessen darüber austauschen, wie wir die Krankheit besiegen, nachdem die Mehrheit der infizierten Personen nicht im Spital behandelt wird, sondern sich zuhause erholt. Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht von kapitalistischen Risikoinvestoren als Versuchskaninchen missbraucht werden! Die Pandemie darf nicht als Vorwand dienen, die Weltbevölkerung gewaltsam zu dezimieren. Die Reichen müssen ihre Furcht vor den Armen überwinden, schließlich wird Armut durch systemische Ungerechtigkeiten verursacht.

Die Pandemie darf nicht als Vorwand dienen, die Weltbevölkerung gewaltsam zu dezimieren.

Wir können nur hoffen, dass die Staaten letztendlich erkennen, dass Grenzschließungen, nationalistische Ressentiments und Aktionen kontraproduktiv sind. Wir brauchen eine radikale Neubewertung auf vielen Ebenen, diese muss im Geist von Zusammenarbeit und Solidarität erfolgen. Die Pandemie sollte nationalistische Fanatiker ein für allemal Lügen strafen. Es sollte endlich klar werden, dass keine Supermacht auf der Welt existiert, wenn ein superkleines Virus nun offenbart, dass das kapitalistische System unmoralisch und unfähig ist, die Menschen zu schützen.

Wir können nur hoffen, dass die Staaten letztendlich erkennen, dass Grenzschließungen, nationalistische Ressentiments und Aktionen kontraproduktiv sind. Wir brauchen eine radikale Neubewertung auf vielen Ebenen, diese muss im Geist von Zusammenarbeit und Solidarität erfolgen.

Hoffentlich werden die Bürger*innen dieser Welt Netzwerke aufbauen, die tatsächlich global sind und damit jenes System zu Fall bringen, das lediglich das Kapital und die Mittel seiner primitiven Akkumulation globalisiert. Wenn die Menschen wieder aus ihrer erzwungenen Isolation herauskommen, müssen sie Wege finden, die Macht zurückzugewinnen. Wir wissen um die Macht der Straße, nun braucht es die Macht der Menschen, die einander verteidigen, indem sie lokale Lebensmittelproduktion unterstützen, sich gegen den Einsatz giftiger Chemikalien und unnötige gentechnische Veränderung von Lebensmitteln wehren, die sich für eine Verkleinerung unseres ökologischen Fußabdrucks einsetzen und Solidarität aufbauen, einschließlich durch die Nutzung nicht-kommerzieller Community-Medien!

Lass uns am Ende unserer Konversation nochmal für einen Moment an den Beginn zurückkehren – du sitzt zu Hause in Benin City fest. Wie sind deine Pläne für die kommenden Wochen? Bist du in bestimmten Projekten engagiert oder baust du gerade neue auf?

In den kommenden Wochen plane ich, mich auf meinen Garten zu konzentrieren und Gemüse anzubauen. Außerdem werde ich mit Kolleg*innen daran arbeiten, sich im Kontext der Einschränkungen der Pandemie neu zu organisieren. Ich verbringe Zeit damit zu lernen, wie man darauf hinarbeiten kann, die Macht zurück an die Basis zu bringen, während zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie wir in den Hintergrund treten und unsichtbar werden sollten.

UPDATE:

Während der Übersetzung dieses Interviews aus dem Englischen wurde der Lockdown in Nigeria teilweise aufgehoben, ich habe Nnimmo Bassey nach seiner Einschätzung der aktualisierten Lage gegfragt.

Der Lockdown hat positiv dazu beigetragen, die Ausbreitung der Infektion zu verlangsamen. Er hat auch die Ungeduld der Menschen wie auch unserer politischen Strukturen gezeigt. Wir möchten rasch zu einem „Business as usual“ zurückkehren. Wir wollen schnelle Lösungen, wir scheinen nicht bereit zu sein für die notwendigen Zugeständnisse, die es für eine Umkehr unserer zerstörerischen Lebensweise braucht. Wenn die Menschen nicht bereit sind für eine planbare Veränderung, werden die unvermeidbare Folgen verheerend sein.

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Nnimmo Bassey, geboren 1958, ist Architekt, Autor und einer der wichtigsten afrikanischen Umwelt- und Menschenrechtsativisten. Er ist Direktor des ökologischen Think Tanks Health of Mother Earth Foundation (HOMEF), war Vorsitzender von Friends of the Earth International und davor Leiter von Environmental Rights Action. Das Time Magazine kürte ihn 2009 zu einem der Heroes of the Environment. Für seinen Kampf, die verheerenden Folgen der Ölförderung für Mensch und Umwelt aufzuzeigen, erhielt er 2010 den Right Livelihood Award, besser bekannt als Alternativer Nobelpreis. Zahlreiche Publikationen, zuletzt: Oil Politics – Echoes of Ecological War, Daraja Press 2016.

https://nnimmobassey.net/

Foto: (c) Babawale Obayanju