DIE SPRACHE DES KRIEGES
Worte für das Unsagbare finden – das ist die Aufgabe von Schreibenden im Krieg. Es ist immer unmöglich, es ist immer notwendig. Zeugenschaft. Einordnung. Der ganze Irrsinn zwischen Leben und Sterben in einem Moment. Was davon bleibt und vor allem – wer verschwindet. Aus den Geschichtsbüchern. Aus der Erinnerung. Aus der Sprache. Ohne Worte sterben die Opfer noch einmal und es werden immer mehr.
Worte für das Unsagbare finden – das ist die Aufgabe von Schreibenden im Krieg. Es ist immer unmöglich, es ist immer notwendig.
In den ersten Tagen der Invasion Russlands in die Ukraine verfolgte ich die Geschehnisse im Minutentakt, nächtelang. Selbst rang und ringe ich um Worte, immer noch. Sie fehlen mir zwischen den Bildern von Militärkonvois und Straßenzügen voll Flüchtender, zwischen rollenden Panzern, zerbombten Wohnhäusern und den Fotos von Verletzten und Toten. Zwischen den Landkarten, überzogen von roten Markierungen. Zwischen den Kriegsparolen und dem Versagen von Sprache. Dem Versagen von allem. Zwischen den Zahlen und Prognosen. Zwischen Angst, Verzweiflung und Wut. Zwischen der Ungewissheit und der Realität dieses Krieges. Jetzt. Heute. Hier.
Eines weiß ich: Solidarität ist so unmittelbar überlebensnotwendig geworden wie selten zuvor.
About war.
„Nachdem ich mein Leben lang Kriege beobachtet habe, halte ich sie für eine endemische menschliche Krankheit und Regierungen für die Überträger“, so Martha Gellhorn in Das Gesicht des Krieges – Images of war. Als eine der ersten Kriegsreporterinnen berichtete sie aus dem Spanischen Bürgerkrieg und zahlreichen weitere Kriegen, die das 20. Jahrhundert heimsuchten. Doch im Gegensatz zu fast allen (fast ausschließlich männlichen) Kollegen schrieb sie nicht in erster Linie über militärische Strategien, Truppenbewegungen und tabellarische Verlustvergleiche, sondern über das Leid der Zivilbevölkerung. Ihre Berichte aus dem belagerten Madrid machten sichtbar, was Krieg für jede*n Einzelne*n bedeutet, sie riss das Grauen aus der Abstraktion, der Distanz, sie fand Worte für das Unsagbare.
Worte für das Unsagbare
Im 21. Jahrhundert verfolgt die Welt den Krieg live auf Social Media. Das hat jedoch nichts am Unwissen und an der Ignoranz geändert. Nichts daran, dass Menschen im Stich gelassen werden, in Syrien, in Afghanistan, in Yemen. In der Ukraine. Gleichzeitig bedeutet es Öffentlichkeit für jede*n Einzelne*n und damit Verantwortung. Es bedeutet, nicht wahllos Meldungen aus unbekannten oder nur scheinbar vertrauenswürdigen Quellen weiter zu verbreiten. Es bedeutet zu hinterfragen, wer spricht, warum und worüber. Es bedeutet, die Worte genau abzuwägen, denn sie sind Munition. Sie sind es in jedem Krieg und in jeder Krise. Worte definieren, weisen Be-Deutung zu, historisch, gegenwärtig, zukünftig. Was wir heute schreiben, ist die Realität von morgen.
Darum geht es in About war – Die Sprache des Krieges.
Seit Beginn dieses Krieges erleben wir eine Re-Legitimation toxischer Männlichkeit, ja deren Stilisierung zum archaischen Heldenbild wenn der Held denn nur auf der richtigen Seite für die richtige Sache ins Feld zieht. Frauen hingegen werden nahezu ausschließlich in der Opfer- und/oder Mutterrolle dargestellt. Egal wie viele Soldatinnen, Strateginnen, Expertinnen, Politikerinnen gerade die Geschehnisse mitbestimmen — es sind Männer, die in die Geschichtsbücher geschrieben werden, im 21. Jahrhundert. Erschreckend, wie schnell diese überkommenen Muster wieder da sind und mit einem Streich die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe um ein egalitäres Geschlechterbild vom Monitor wischen.
Erschreckend, wie schnell diese überkommenen Muster wieder da sind und mit einem Streich die Errungenschaften jahrzehntelanger Kämpfe um ein egalitäres Geschlechterbild vom Monitor wischen.
Es wirkt, als hätte sich ein Ventil geöffnet, das nun endlich wieder guten Gewissens erlaubt, in die Kriegsbegeisterung lautstark miteinzustimmen. Besonders folgenreich ist dies, wenn Journalist*innen von einem Tag auf den anderen die Grundlagen ihres, unseren Berufes zu vergessen scheinen und aufs Geratewohl ihrer Selbstgerechtigkeit in den Kommentarspalten freien Lauf lassen. Damit meine ich nicht jene, die jahrzehntelang aus Kriegsgebieten berichten, von ihnen lese und höre ich dieser Tage oft wohlüberlegte Worte. Denn sie sind es, die ihr Leben im Einsatz für Information und Zeugenschaft riskieren und, wie auch in diesem Krieg, viel zu oft damit bezahlen. Diejenigen jedoch, deren Feld bis dato nicht die Krisenberichterstattung war und die dementsprechend wenig Expertise in diesem Bereich haben, sind es, die mitunter am lautesten brüllen und einmal mehr sich selbst und nur sich selbst in den Mittelpunkt rücken. Das ist gefährlich, denn dieser Krieg ist, vielleicht mehr als jeder zuvor (aufgrund der technischen Möglichkeiten bzw. deren Beschneidung), auch ein Informationskrieg neuer Dimensionen.
Diskurs statt Ignoranz
Nicht zuletzt deshalb ist es so essentiell, Raum für Diskurs jenseits von Oberflächlichkeit und propagandistischen Parolen zu schaffen. Krieg stellt die höchste Stufe patriarchaler und rassistischer Gewalt dar. Eine feministische, demokratische Position kann nur eine sein, die sich gegen jegliche Glorifizierung des Krieges und das Wiedererstarken archaischer Rollenmuster wendet, aber ohne jedes Zögern Partei ergreift gegen Unterdrückung, Verfolgung und gewaltsame Einschränkung von Selbstbestimmung. Solidarität ist das Gegenteil von Krieg und vielleicht die einzige Waffe, um ihn dauerhaft zu verhindern.
Solidarität ist das Gegenteil von Krieg und vielleicht die einzige Waffe, um ihn dauerhaft zu verhindern.
Ein fundierter Diskurs fehlt in der österreichischen medialen, aber auch literarischen Öffentlichkeit weitgehend. Er fehlt nicht erst seit dem Beginn der russischen Invasion, er fehlt vielmehr seit Jahren und Jahrzehnten. Die mediale Präsenz des Kriegs in der Ukraine geht inzwischen merklich zurück, doch die Krise bleibt und wird verschärft, tagtäglich.
Zahlreiche Kommentator*innen haben bei Kriegsausbruch vom „ersten Krieg in Europa seit 1945“ geschrieben. Welch eine Ignoranz in Anbetracht der Millionen Opfer, der Kriege, Verfolgung, Genozide auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens. Die Retraumatisierung von Überlebenden in diesen Tagen und Wochen findet selten Eingang in die Berichterstattung. In diesem Fehlen, dieser Ignoranz gegenüber dem Osten und Südosten Europas liegt nur einer der vielen blinden Flecken, die Putins Machtfülle erst ermöglicht haben.
Daher fragen wir: Wer spricht über Krieg und wie? Wer definiert, bestimmt diesen Diskurs und warum? Was kann Aufmerksamkeit, Reflexion, Auseinandersetzung bedeuten? Was kann diese verändern? Womöglich verhindern? Welche Macht hat Sprache, Diskussion, Öffentlichkeit heute, jetzt, in diesem Moment? Wem wird das Feld – das Schlachtfeld – überlassen und was bedeutet das für die Zukunft Europas?
Was bedeutet es für Gleichberechtigung, Freiheit und, ja, Sicherheit? Eine Kollegin schrieb mir in den ersten Tagen des Überfalls auf die Ukraine unter Tränen, jetzt würde es wieder beginnen, die totale Entwertung von Frauen*, die systematischen Vergewaltigungen, die Rechtfertigungen gleich danach. Wie recht sie hatte, zeigte sich unmittelbar darauf und wie sehr wünschten sie und ich, es wäre anders gewesen. Wir fragten uns beide, wieviele never agains werden es diesmal werden und wie rasch werden die Verbrechen von den Titelseiten, aus den Diskussionen, den Aktivismen verschwinden? Wie schnell werden die Menschen verschwunden sein, die lebenden und die toten? Die Überlebenden? Wie sehr bedingen Worte oder ihr Fehlen dieses Verschwinden – aus den Bildern, der Erinnerung, der Gegenwart, der geraubten Zukunft? Was macht dieses neuerliche Schweigen mit einer Gesellschaft, mit Demokratie, mit jedem/r* Einzelnen? Was bleibt davon?
Wie schnell werden die Menschen verschwunden sein, die lebenden und die toten? Die Überlebenden? Wie sehr bedingen Worte oder ihr Fehlen dieses Verschwinden – aus den Bildern, der Erinnerung, der Gegenwart, der geraubten Zukunft?
Die Grenzen der europäischen Solidarität treten nicht nur hinsichtlich der nicht vorhandenen bzw. sehr eingeschränkten Embargos von russischem Öl und Gas zutage, sondern auch im Umgang mit Geflüchteten. Es ist ein überwältigend und bewegend, wie in ganz Europa Millionen von Menschen, die vor den russischen Angriffen in der Ukraine fliehen, rasch, unbürokratisch und möglichst gut versorgt aufgenommen werden. Doch solange die rassistische Ungleichbehandlung von Geflüchteten weiterbesteht, so lange Menschen im Mittelmeer ertrinken, in Wäldern erfrieren, an Zäunen und mit Waffen zurückgedrängt und in Elendslager an den Außengrenzen gesperrt werden, solange illegale Push-backs stattfinden und Schutzsuchende aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion und/oder Herkunft die selbe solidarische Aufnahme verweigert wird, solange bleibt dieses Europa neokolonial, kapitalistisch und menschenverachtend. Es ist nicht zu glauben, dass es diese Feststellung, diesen Aufruf, heute braucht. Aber solange nicht entsprechend gehandelt wird, solange können die Worte nicht oft genug wiederholt werden: Es gilt allen zu helfen, die Schutz brauchen, denn Krieg ist Krieg und Mensch ist Mensch.
Das Schweigen brechen
Die Worte fehlen überall und von der Dunkelheit des Schweigens profitieren die Kriegsgewinnler, die Aggressoren. Die Opfer werden einmal mehr ausgelöscht. Wenn wir es als Gesellschaft wieder nicht geschafft haben, einen Krieg zu verhindern, so müssen wir doch zumindest auf der Lektion der Geschichte beharren, nicht darüber zu schweigen.
Der nordmazedonische Autor Nikola Madžirov, der den Krieg in Jugoslawien selbst durchmachen musste und nun Gedichte ukrainischer Autor*innen übersetzt, meinte kürzlich: „Poetry has to witness what is happening. Official history cares about numbers and power. Poetry is more about fragility.“ Diese Fragilität ist überlebenswichtig. Sie ist das, was wir gern menschlich nennen, aber viel zu oft preisgeben.
Diese Fragilität ist überlebenswichtig. Sie ist das, was wir gern menschlich nennen, aber viel zu oft preisgeben.
About war bedeutet, das Schweigen zu brechen, ja gar nicht entstehen zu lassen, sondern zu schreiben, zu reden, zu diskutieren, über Worte, Bilder, Zeugenschaft. Über Sprache, ihre Grenzen und ihre Endlosigkeit. Über Medien und Verantwortung, Ressourcen und Strukturen, über Definitionsmacht und Dominanz.
About war schafft Raum – zum Worte finden, Sätze abwägen, Texte erarbeiten, Fakten recherchieren, Thesen entwickeln, Erfahrungen teilen, Probleme benennen, um künstlerische Strategien und Utopien auszubreiten, wissenschaftliche Zugänge zu vermitteln und literarische Experimente Platz greifen zu lassen.
Über die Sprache des Krieges zu arbeiten, bedeutet Austausch, bedeutet, dieser Sprache auf den Grund ihrer Bedeutung und Funktion zu gehen. About war bedeutet daher Schreiben und Diskurs – von und mit Autor*innen, Fotograf*innen, Künstler*innen, Krisen/Kriegsreporter*innen, Geflüchteten, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen aus Mitteleuropa ebenso wie aus und in Krisen- und Kriegsgebieten.
About war spannt den Bogen zwischen medialen, literarischen, künstlerischen und wissenschaftlichen Expertisen und generiert Öffentlichkeit auf unterschiedlichsten Ebenen. Denn nur so lässt sich ein Diskurs dieser Dimension aufmachen.
Für eine bessere Wirklichkeit
„Nach meiner Theorie ist die Geschichte wie ein Staffellauf: Der Fortschritt in menschlichen Dingen hängt davon ab, dass die individuelle Pflicht, sich den Übeln der Zeit zu widersetzen, von jeder Generation neu angenommen wird. Die Übel der Zeit verändern sich, aber sie werden niemals weniger und würden unangefochten bleiben, wenn es nicht Menschen mit Gewissen gäbe, die sagen: Nicht, wenn ich es verhindern kann“, so Martha Gellhorn.
Wir werden hier auf unserem Blog tatsachen.at sowie in kommenden ausreißer-Ausgaben Autor*innen, Künstler*innen, Journalist*innen und Stimmen von Menschen in und aus der Ukraine mehrsprachig Raum geben, und wir werden sie für ihre Arbeit bezahlen. Das ist das Mindeste, was wir tun können. Dasselbe haben wir bereits für Kolleg*innen aus anderen Kriegs- und Krisengebieten begonnen und werden diese Bemühungen noch weiter intensivieren.
Eine eigene Veranstaltungsreihe zu About war – Die Sprache des Krieges im Rahmen des Kunstraum Steiermark Programmes startet im kommenden Jahr.
Nur wenn Menschen gesehen und gehört werden, deren Sprachen und Perspektiven präsent sind, können Verhältnisse dauerhaft verändert werden.
Nur wenn Menschen gesehen und gehört werden, deren Sprachen und Perspektiven präsent sind, können Verhältnisse dauerhaft verändert werden.
Es ist jene Solidarität, die notwendig ist, damit irgendwann, dafür aber endgültig Wirklichkeit wird, was so oft als Utopie abgetan wurde: Die Waffen nieder! Denn, so Martha Gellhorn: „Es muss eine bessere Art geben, die Geschicke der Welt zu lenken. Sorgen wir dafür, dass sie Wirklichkeit wird.“
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Wenn ihr Kolleg*innen in und aus Kriegs- und Krisengebieten in diesem Rahmen unterstützen könnt und wollt, ist das hier möglich:
ausreißer – Grazer Wandzeitung
IBAN: AT94 1700 0001 8000 9361
BIC: BFKKAT2K
Referenz: ABOUT WAR
Dieser Text basiert auf Reflexionen im Editorial der ausreißer-Ausgabe #100.