„FRAU, LEBEN, FREIHEIT“ – auf der Straße, überall.
Wie sich die iranische Protestbewegung im öffentlichen Raum manifestiert.
Teil 1 einer aktuell fortgesetzten Recherche.1Für die vorliegende Recherche wurde hauptsächlich auf folgende Medien auf unterschiedlichen Social Media-Kanälen (Instagram, Twitter, Telegram) zurückgegriffen: Vahid Online, BBC Persian, Manoto, Radio Farda, Iran International, Khiaban Tribune. Aufgrund der sprachlichen Vielfalt im Iran und meiner Quellenauswahl sind in der folgenden Dokumentation mögliche Wandparolen etc. in kurdischer (vgl. Wandslogans in Mahabad, gepostet am 20.11.2022), türkischer, arabischer oder armenischer Sprache unterrepräsentiert bzw. nicht erfasst. Teil 1: September bis November 2022.
Bei einer Kontrolle durch die Sittenpolizei wurde die kurdische Iranerin Jina (Mahsa)2Die Verwendung des kurdischen Namens Jîna ist, wie viele andere Namen, in der Islamischen Republik Iran als „nicht-iranisch“ verboten. Mahsā ist daher der erlaubte „Ersatz“-Vorname für Jina Amini. Vgl. hier Amīnī, die gerade auf Besuch in die Hauptstadt Teheran gekommen war, aufgrund ihres angeblich inkorrekt getragenen Kopftuchs, in Polizeigewahrsam genommen. Nur wenige Zeit später starb sie am 16. September 2022 an den Folgen erlittener Polizeigewalt.
Die heftigen Proteste, die der Tod von Jina (Mahsa) Amīnī in vielen Landesteilen des Irans auslöste, werden zu einem gewichtigen Teil von (jungen) Frauen getragen.3Es gibt dabei regionale Unterschiede. So sind Frauen wenig bis kaum auf Videos von Protestmärschen in Städten der Region Sistan und Belutschistan im Süden des Irans zu sehen. Vgl. hier Nach rund zwei Monaten halten die Protestaktionen immer noch an, und das, obwohl sie inzwischen schon hunderte das Leben4Die genauen Opferzahlen sind unbekannt und steigen täglich. Verifizierte Listen von Getöteten gehen von zumindest 344 Personen aus. Die tatsächliche Zahl von Regimeopfern dürfte jedoch um ein Vielfaches höher sein. Vgl. hier, 15.11.2022. und zigtausende Menschen die Freiheit gekostet haben.
Als weltweites Wiedererkennungszeichen für das Streben iranischer Frauen und Männer nach Selbstbestimmung und Menschenrechten (und der damit verbundenen Forderung nach Aufhebung der seit über vierzig Jahren herrschenden Kopftuchpflicht) gilt der kurdische Slogan „Jin, Jiyan, Azadî“ (auf Farsi: „Zan, Zendegi, Azadi“, deutsch: „Frau, Leben, Freiheit“), der bereits seit Jahrzehnten in der kurdischen Autonomie- bzw. Unabhängigkeitsbewegung Verwendung findet und das erste Mal bei 8.-März-Demonstrationen im Jahr 2006 in der Türkei auf Bannern auftauchte.5Vgl. hier , 27.10.2022
„Von Kurdistan bis Zahedan, ich gebe mein Leben für den Iran“
Im Unterschied zur Sichtweise des Regimes, das die aktuellen Proteste in den kurdischen Gebieten und in der Provinz Sistan und Belutschistan als separatistisch abtun möchte8In diesen Gebieten hat es auch in den vergangenen Jahren immer wieder zahlreiche willkürliche Verhaftungen, Todesopfer durch die Gewalt des Regimes sowie Hinrichtungen gegeben. Vgl. hier, 6.2.2021, und hier, 26.2.2021 (und für die Proteste wie üblich ausländische Akteure verantwortlich macht), betonen viele Slogans der Proteste die Einheit des Irans und den Sturz des aktuellen Regimes als gemeinsames Ziel. So sind auf Videos von Demonstrationen aus Belutschistan Slogans auf Farsi zu hören, auch schriftliche Parolen auf mitgetragenen Transparenten sind in Farsi zu lesen.9Vgl. hier, 18.11.2022 Auf Wänden in Zahedan sind die gesprühten Wandparolen ebenfalls in Farsi verfasst.10Vgl. hier, 12.11.2022 Umgekehrt gibt es Aktivist*innen, die in Teheran Wandslogans auf Kurdisch sprühen.11Vgl. YouTube, 15.10.2022
Personen, die Parolen auf Wände sprayen, laufen nicht nur Gefahr, verhaftet, sondern auch erschossen zu werden. Dies zeigt der Fall des 44-jährigen Kurden Ardalan Ghasemi, der am 10. November in Kermanshah mit drei Schüssen in den Rücken getötet wurde, als er gerade Wandslogans gegen das Regime sprühte. Auch ein ebenfalls anwesender Freund von Ghasemi wurde durch Schüsse schwer verletzt.13Vgl. hier, 12.11.2022
Vom Regime symbolisch besetzter öffentlicher Raum
Seit Jahrzehnten wird der öffentliche Raum in iranischen Städten visuell von propagandistischen Images dominiert, oft in Form überdimensionaler Waldgemälde, vorrangig um das Heldengedenken an iranische Opfer des Iran-Irak-Krieges (1980-1988) bis heute hochzuhalten.
Die politische Propaganda findet mittlerweile vermehrt in moderner Form auf Überkopf-Billboards und großflächigen Bannern statt, die über und neben vielen stark befahrenen Stadtautobahnen17Vgl. hier, 11.10.2022 und auf eigenen Wänden zu sehen sind.
Es mag daher nicht verwundern, dass diese Illustration staatlicher Macht und Propaganda (inklusive kommerzieller Werbebanner) zu einem der symbolischen Hauptangriffsziele der Proteste geworden sind und inzwischen im Internet zahlreiche Videos von brennenden Propagandabannern zu sehen sind. Dazu zählt auch die Zerstörungen von Statuen, etwa jener im Andenken an Quasem Soleimani, der u.a. als Verantwortlicher für iranische Militäreinsätze und den Aufbau von Iran-treuen Milizen im Ausland gilt und im Jänner 2020 von eine US-Drohne in Bagdad getötet wurde.
Ein brennendes Banner in Teheran mit dem Motiv „Polizei im Dienst des Volkes“18Vgl. hier, Teheran, Aghdasieh Street, 9.10.2022
Blutrote Farbbeutel auf einem Wandgemälde von Quasem Soleimani in Maschad – und kurz darauf ist er schon verschwunden.19Vgl. hier, 12.11.2022. Vgl. auch ein aus Sicherheitsgründen verdecktes Mural mit Khomeini und Khamenei, 18.11.2022)
Im November 2022 wurde die iranische Fußballnationalmannschaft, die an der WM in Katar teilnahm, im fußballbegeisterten Iran zum Feindbild der Protestbewegung, nachdem die Spieler vor ihrer Abreise noch bei Präsident Raisi zu Besuch waren. Nun zählen auch die Banner zur Fußball-WM zu jenen, die in Brand gesteckt werden.
Apropos Sport: Viele Sportler*innen21In Solidarität mit der Protestbewegung gibt es auch viele iranische Schauspielerinnen, die (verbotenerweise) Videos von sich ohne Kopftuch posten. haben sich öffentlich auf die Seite der Anti-Regime-Kräfte gestellt, etwa der ehemalige Fußballstar Ali Karimi, die ohne Kopftuch kletternde Elnas Rekabi; sowie Sportler, die bei der Hymne schweigen, nach Toren bzw. bei Pokalverleihungen nicht jubeln oder stattdessen aus Protest eine Geste des Haareabschneidens zeigen.
Der Widerstand ist weiblich
Nachdem Jina (Mahsa) Amini in der Folge eines Verstoßes gegen das obligate Kopftuchgebot in der Islamischen Republik Iran starb, war das demonstrative Schwenken des abgenommenen Kopftuchs auf belebten Straßen, begleitet von zustimmendem Hupkonzert der Vorbeifahrenden, eine der ersten durch Frauen gezeigten Widerstandsformen.24Vgl. hier, 2.10.2022
Frauen schwenken ihre Kopftücher über einem Banner „Frau, Leben, Freiheit“.25Vgl. hier, 5.10.2022
Viral gegangen ist das Foto von zwei jungen Frauen, die sich gleich zu Beginn der Proteste in einem Teheraner Lokal beim Essen ohne Kopftuch zeigten (eine von ihnen war daraufhin einige Tage in Haft). Nach aktuellen Berichten aus Teheran verwenden mittlerweile viele Frauen im öffentlichen Raum das Kopftuch lediglich als Schal, ohne dass sie für diesen Verstoß bestraft würden.
Zu den für diese aktuelle Protestbewegung typischen und teilweise sehr überraschenden Vorkommnissen zählt der Umstand, dass neben den traditionell kritischen Studierenden an den Universitäten gleich zu Beginn der Proteste auch viele Videos aus Schulen online gingen, in welchen Schülerinnen ohne Kopftuch und mit Parolen zu sehen sind.28Vgl. hier, 8.10.2022
Dazu kommen Dokumentationen aus mehreren Schulen, in welchen Mädchen auf Fotos des ersten Obersten Führers Ruholla Khomeini (1902-1989) herumtrampeln oder sie verbrennen30Vgl. hier, 26.10.2022, nachdem sie die Bilder aus ihren Schulbüchern herausgerissen haben.31Vgl. hier und hier, 26.10.2022
Aus Büchern gerissene Fotos des verstorbenen Obersten Führers Ruhollah Khomeini. Dazu eine Erinnerung einer heute in Österreich lebenden Iranerin: „Als ich in den 1980ern im Iran in die Schule ging, wurde uns gesagt, dass wir das Foto von Khomeini in den Schulbüchern nicht berühren dürfen, wenn wir die Regel haben, da wir dann unrein seien.“32Vgl. hier, 3.10.2022
Nach Einschüchterungen, Verhaftungen und gewaltsam zu Tode gebrachten Jugendlichen33Unter den verifizierten Getöteten befinden sich 46 männliche und 12 weibliche Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Vgl. The Guardian, 20.11.2022 finden sich kaum mehr Zeugnisse von derartigen Aktionen. Weiterhin betrieben wird das Beschreiben von Wänden mit regimekritischen Slogans an Uni-Gebäuden und Aktionen von Studierenden, zu denen künstlerisch-kreative Protestformen in den Kunstuniversitäten gehören.
Der Kampf um die Wände als Teil von Revolutionen
Für seinen Film „Writing on the City“ (2015)37Vgl. hier hat der inzwischen in Paris lebende iranische Filmemacher Keywan Karimi zahlreiche Foto- und Videodokumente aus der Zeit der Revolution im Iran 1978/79 in Teheraner Archiven ausgegraben. Sie dokumentieren, wie damals die Wände mit ihren geschriebenen und gesprühten Slogans, ihren Plakaten und Stencils verschiedene Funktionen im Kampf gegen das Schah-Regime erfüllten. So ging es vorrangig darum, jene Informationen öffentlich zu machen, die von den offiziellen Medien zensuriert bzw. totgeschwiegen wurden. Den Botschaften und Informationen über Opfer auf den Wänden wurde von der Bevölkerung mehr vertraut als den öffentlichen Medien im Dienste des herrschenden Regimes.
Insofern erfüllen regimekritische Wandparolen, unabhängig von den politischen Überzeugungen der Akteur*innen, zumeist ähnliche Funktionen, so auch im Rahmen der aktuellen Protestbewegung im Iran. Die Verbreitung kritischer Botschaften gegen das jetzige Regime im Iran hat selbstverständlich nicht erst mit dieser Protestbewegung begonnen, wie etwa ein Blick auf die Instagram-Seite @khiabantribune zeigt.39Vgl. Instagram @khiabantribune
Die Botschaft der Ungehörten
Die meisten der aktuell im Iran praktizierten Protestformen sind daher nicht neu. Wieder sind in erster Linie äußerst zahlreiche, in kurzer Zeit gesprühte Anti-Regime-Slogans zu sehen. Für das Sprayen einer Wandparole ist zudem kein spezielles Know-How oder viel Zeitaufwand nötig, wie hingegen für das Anfertigen von Schablonen (Stencils) oder aufwändigen Graffitis.
Nachdem im Iran, wie in vielen Ländern, die Sprayer*innen-Szene hauptsächlich männlich geprägt ist, ist es umso überraschender, dass plötzlich eine Vielzahl von Videos auftauchen, in denen Frauen beim Sprühen zu sehen sind.
Apropos Videos: Nachdem die meisten der gesprühten regimekritischen Slogans wohl nur kurze Zeit überleben, bis sie wieder übermalt werden, ist die Verbreitung über das Internet umso wichtiger. Auf Social Media-Kanälen finden sich daher zahlreiche Fotos und Videos, die von iranischen User*innen an Medien im westlichen Ausland geschickt werden und so für Dokumentation und Weiterverbreitung sorgen.
Wie bei vielen, die auf Wänden ihre Botschaften und Kunstwerke hinterlassen, ist die Erweiterung des öffentlichen durch den virtuellen Raum daher integraler Teil ihres Wirkens. So werden etwa die selben Inhalte von Vahid Online oder Manoto, BBC Persian und anderen parallel auf Instagram, Twitter und in Telegram-Gruppen verbreitet. Für jene, die des Farsi nicht mächtig sind, sind integrierte Übersetzungsfunktion zu empfehlen, da den Inhalten – mit Abstrichen – damit doch recht gut gefolgt werden kann.
Nicht gesehen, nicht geschehen?
Die Verwobenheit der Proteste mit dem virtuellen Raum (und damit auch die Zugänglichkeit zu unzensierten Nachrichtenquellen) lässt sich an der frühen und zahlreichen Verwendung von Hashtags bei Wandslogans klar festmachen.
Bereits wenige Tage nach dem gewaltsamen Tod von Jina (Mahsa) Amini taucht ihr Name als Hashtag auf.43Vgl. hier, 26.09.2022
Zwar werden weiterhin Flugzettel45Vgl. hier, 22.10.2022 und hier, 13.11.2022 und Streuzettel46Vgl. hier, 05.10.2022 von Autobahnbrücken geworfen, Zettel unter Scheibenwischer parkender Autos47Vgl. hier, in Kerman, 28.10.2022 oder in die Schlitze von Haustüren geklemmt48Vgl. hier, 19.10.2022 oder auf Wände geklebt.49Vgl. hier, hier, hier und hier, 14.11.2022 Dennoch: Die eigene (mitunter eher unscheinbare oder nur kurzlebige) Protestaktion gewinnt erst durch die möglichst breite Sichtbarmachung auf Social Media-Kanälen an Macht.50Die Wichtigkeit von Flugzetteln als alternatives Informations- und Agitationsmittel scheint jedoch zuzunehmen. So sind in einem Video eine große Anzahl von produzierten und verteilten Flugzetteln zu sehen. Vgl. hier, 18.11.2022 So gehören zu jenen Aktionen, die wohl kaum von einer größeren Menschenmenge „live“ miterlebt werden, auch Luftballons, die mit ihren angehängten Slogans in den Himmel steigen.
Es ist daher die zeitweise und regional beschränkte Drosselung bzw. Totalabschaltung des Internets (und Stroms) eine wirksame Methode zur Unterdrückung der Proteste.
Parole mit Ballons in den Farben der iranischen Flagge: „Diktatur, sag Hallo zum Monat Aban“51Vgl. hier, 23.10.2022 (in Erinnerung an blutigen Unruhen im November 2019 im iranischen Monat Aban, die sich – anders als 2022 – an der wirtschaftlichen Notsituation eines großen Teils der Bevölkerung entzündet hatten und bis zu 1.500 Todesopfer gefordert haben sollen).52Vgl. Tagesspiegel, 02.12.2019
Aban 1398-Aban 1401
Drei Jahre nach den Unruhen im November 2019 (Aban 1398) fand ein dreitägiger Streik von 24. bis 26. Aban (= 15.-17. November 2022) statt, der neben zahlreichen Arbeitsniederlegungen zu erneuten, sehr großen Protesten54Wandslogans dazu hier, 16.11.2022 in vielen Teilen des Landes führte. Wieder waren etliche Todesopfer durch die gewalttätigen Reaktionen des Regimes die Folge.
Der Kreativität sind – fast – keine Grenzen gesetzt
Hier einige Beispiele für Protestformen im öffentlichen Raum:
In der Teheraner Freiheitsstraße (Azadi Street) wurden Teile der Straßenschilder mit den Namen Getöteter überklebt, hier der Name von Nika Shakerami, mit dem Zusatz „Märtyrerin“ (analog zu sehr viele Straßennamen in Teheran, die nach Kriegsopfern des Iran-Irak-Kriegs benannt sind, die religiös interpretiert als Märtyrer angesehen werden.59Vgl. hier, 27.10.2022
Nicht nur der öffentliche Raum im Freien, auch öffentliche und universitäre WC-Anlagen dienen als Diskursflächen64Vgl. hier, 22.10.2022.
Dieses Stencil auf einem Spiegel in der Teheraner Kunstuniversität besagt: „Das ist das Gesicht von jemandem, der etwas verändern kann!“66Vgl. hier, 30.10.2022
Aktionistische Interventionen
Zu den Interventionen auf den Straßen gehören Aktionen wie das Umarmen von Fremden, das Verteilen von aufmunternden Zetteln an Frauen ohne Kopftuch, das eigentlich verbotene öffentliche Musizieren, das ebenfalls verbotene Radfahren von Frauen und vieles mehr. Zu einer gerne gefilmten Aktion wurde das Herunterschlagen der Turbane von Mullahs im öffentlichen Raum.67Dokumentiert sind auch die (kreativen) Reaktionen der Mullahs, die vom Festbinden des Turbans, über das Mittragen eines Ersatzturbans bis hin zum Weglassen des Tragens eines Turbans reichen.
Den Opfern Namen und Gesicht geben
Was die Verbreitung von Bildern Protestierender betrifft, so dienten diese dem Regime im Jahr 2009, im Zuge der so genannten „Grünen Revolution“, als Ausgangslage für Inhaftierungen. Bei den Protesten heute haben die Betroffenen zum einen gelernt, ihre Identität etwa durch Schutzmasken zu schützen, zum anderen hat auch für Medien die Sicherheit der am Bild gezeigten Personen Vorrang vor deren Ikonisierung. So ist auf zahlreichen Videos vor lauter Verpixelungen und Unschärfen nur wenig zu erkennen.
Eine umso wichtigere Rolle nimmt die Benennung der Opfer ein. Nach Jina (Mahsa) Amini waren es vor allem junge getötete Frauen wie die 16-jährige Nika Shakarami70Vgl. Wikipedia und die 16-jährige, am 23.9.2022 zu Tode geprügelte Sarina Esmailsadeh in Karaj, deren Namen zu Zeugnissen der Brutalität des Regimes und Symbolen des Widerstands wurden.71Vgl. Wikipedia
Ekbatan, eine in sich geschlossene große Siedlung in Teheran, ist Schauplatz beinahe täglicher Proteste und wiederholter mutwilliger Zerstörungen durch Regimekräfte. Auch dort machte man die Namen von Opfern aus der Protestbewegung öffentlich. Hier: „Armita Abbasi, Teheran, 20 Jahre alt, Situation: unklar“.75Vgl. hier, 28.10.2022. Armita Abbasi wurde bei einer Demonstration in Karaj festgenommen, danach mit schweren Verletzungen durch Vergewaltigung in ein Krankenhaus gebracht, um bald darauf wieder von Regierungskräften verschleppt zu werden. Stand 13.11. ist ihr weiteres Schicksal unbekannt. Vgl. hier, 25.10.2022
Das bisher größte durch das Regime verübte Blutbad ereignete sich in Zahedan (Hauptstadt der Provinz Sistan und Belutschistan), als am 30. September nach dem Freitagsgebet wahllos in die Menschenmenge auf der Straße geschossen wurde und dabei nach Angaben von Amnesty International76Vgl. amnesty.de mindestens77In einer anderen Quelle werden 90 Opfer namentlich angeführt: hier, 03.10.2022 82 Menschen starben. Unter den Getöteten befand sich auch Khodanur Lojaei, der bereits im Juli 2022 verhaftet und auf der Straße an einen Pfahl gebunden worden war. Unmittelbar vor den Durstigen, jedoch für diesen unerreichbar, hatten seine Folterer eine Flasche Wasser platziert.78Vgl. Wikipedia
Der Gott des Regenbogens
Am 16. November wurde in Izeh der im Auto seiner Eltern mitfahrende neunjährige Kian Pirfalak durch Schüsse getötet. Am selben Tag wurden in der Stadt mehrere Menschen erschossen, darunter ein weiteres Kind. Von Kian existiert ein Video, in dem er sein vor einiger Zeit im Rahmen eines Wissenschaftsprojekts gebasteltes Boot vorstellte. Er begann das Video mit der üblichen Redewendung „Im Namen des Gottes“ und ergänzte um: „des Gottes des Regenbogens“. Vom Regime wurden angebliche Terroristen für seinen Tod verantwortlich gemacht. Diese Version sollte durch stundenlange Propaganda-Sendungen im Fernsehen untermauert werden. Sein Tod wurde zudem innerhalb kürzester Zeit durch öffentlich installierte Banner propagandistisch für die Zwecke des Regimes missbraucht und sogar in TV-Quizshows eingesetzt.82Vgl. Ausschnitt dazu auf hier, 19.11.2022
Auf der Beerdigung berichtete Kians Mutter minutiös von der Tötung ihres Sohnes und verneinte die Terroristen-Version des Regimes eindeutig.85Vgl. Instagram, 18.11.2022, vergleiche auch einen Wandslogan Izha: „Kian wurde von der Islamischen Republik getötet“, Instagram, 08.11.2022
Bei noch einem weiteren getöteten Protestierenden kam es zur Umschreibung der Vorgänge durch das Regime. Die Leiche von Hamid Reza Rouhi wurde als Mitglied der gefürchteten, paramilitärischen Basij verkleidet, um ihn als von Regimegegner*innen getötetes Opfer zu präsentieren.87Vgl. Instagram, 19.11.2022
Nachdem das ständige Übermalen der regimekritischen Parolen auf den Wänden einer Sisyphusarbeit gleicht, hat auch das Regime in der Zwischenzeit dazu gelernt.
Statt den Protestierenden schöne frisch gestrichene Wände zu überlassen, werden Parolen bis zur Unkenntlichkeit überkritzelt oder zu Blumenbildern umgestaltet, womit die Wände für neue Parolen nicht mehr nutzbar sind.
Auf einem neu entworfenen Banner des Regimes wurden nicht nur Teile des inzwischen ebenfalls international bekannten Protestsongs „Baraye“ von Shervin93Vgl. Wikipedia im propagandistischen Sinn verfremdet, sondern auch die in den letzten Wochen immer wieder auftauchenden kritischen Einfügungen auf Bannern vom Regime gefakt.
Daneben gegangen war bereits zuvor der Versuch, das Frauenthema neu im Sinne des Regimes zu interpretieren. So wurden auf einer der größten Bannerflächen Teherans, am zentralen Valiasr Platz, Portraits von berühmten lebenden und bereits verstorbenen Iranerinnen gezeigt. Nachdem sich einige der lebenden Frauen gegen die Verwendung ihres Fotos verwehrt hatten, wurde das Banner rasch ersetzt.
Erste Todesurteile verkündet
Mit Stand Mitte November 2022 gibt es bereits 20, größtenteils gegen namentlich Unbekannte verhängte Todesurteile.98Vgl. iranhr.net, 14.11.2022
Zusammengefasst kann gesagt werden, dass es der iranischen Protestbewegung, trotz oder gerade aufgrund einer fehlenden Führungsfigur und ideologischen Programmatik, in den letzten beiden Monaten gelungen ist, sich wesentliche Teile des durch die Regime-Macht besetzten öffentlichen Raums durch eine Vielzahl mutiger und kreativer Formen zivilen Widerstands zumindest für kurze Zeit zurück zu erobern bzw. sichtbare Spuren ihrer Ideen, Wünsche, Hoffnungen und Überzeugungen zu hinterlassen.
Nicht verleugnen lässt sich, dass das herrschende Regime im Iran bereit ist, den Widerstand mit allen Mitteln und auch unter Einsatz tödlicher Gewalt zu beenden.
Wenn eine von vielen schon beschworene Revolution so auch noch nicht zu sehen ist – diese junge heranwachsende Generation von Frauen und Männern im Iran scheint mehr denn je entschlossen zu sein, für ihre Freiheit auch ihr Leben zu geben.
Die Veröffentlichung der Recherche erfolgt unter dem Pseudonym Johann Herrach.