ÜBER RÄUME DER ISOLATION UND BEWEGUNG
Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 04
Ein Austausch der Anthropologin, feministischen Aktivistin und Schriftstellerin Eli Krasniqi mit Evelyn Schalk über die Veränderung von privaten und öffentlichen Räumen in Krisenzeiten sowie Erfahrungen von Isolation und Bewegungen über geographische, politische und sprachliche Grenzen hinweg.
TATsachen.at: Eli, wie so oft, aber besonders in diesen Tagen, kommunizieren wir via Messenger. Wie geht es dir und wo erreiche ich dich gerade?
Eli Krasniqi: Ich bin in meiner balkonlosen Wohnung in Graz. Manche Tage sind besser als andere, aber ich habe schon schlimmere Situationen als diese Isolation erlebt, also versuche ich mich so normal wie möglich zu verhalten. Manchmal gelingt mir das, manchmal nicht. Ich versuche zu arbeiten und produktiv zu sein, aber damit ist es so: manchmal geht es, manchmal nicht. Die Umstände sind alles andere als normal, aber ich versuche sie als „neue Normalität“ zu akzeptieren. Doch gleichzeitig schaffe ich es nicht, die allgegenwärtige Angst, wie lange all das noch andauern wird, zu bekämpfen. Wann werde ich meine Familie in Prishtina wiedersehen können? Manchmal fühle ich mich gefangen.
Du musstest sehr rasch beschließen, in Graz zu bleiben, statt nach Prishtina zu fliegen und diese Krisenzeit mit deiner Familie zu verbringen. Das ist eine unglaublich schwierige Entscheidung. Mobilität und Reisefreiheit waren bisher für viele Menschen selbstverständlich, allerdings nie für alle. Ich denke, du kennst „beide Seiten“ und hast für dich eine ausgeklügelte Balance und Bewegung zwischen den Lebensorten gefunden. Aber die jetzige Situation macht es fast unmöglich, eine solche aufrecht zu erhalten…
Wegen meines Doktoratsstudium in Graz und dann wegen meines Jobs gehöre ich zu jenen, die insofern kein Problem mit Mobilität hatten, als dass mein Visum entsprechend erweitert wurde und ich nicht mehr, wie so viele Leute im Kosovo, die Demütigung der Warteschlangen und Menschenmengen vor den Botschaften ertragen muss. Im Jahr 1999, einen Monat vor Beginn der NATO-Bombardierungen, war ich gerade in Norwegen. Obwohl ich damals hätte dort bleiben können, habe ich mich entschieden, zurück in den Kosovo zu gehen. Das war möglich – schwierig, gefährlich, aber möglich. Jetzt hingegen ist die “Gefahr” eine andere. Selbst wenn ich mich entschieden hätte, zu gehen – Prishtina hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Quarantäne-Bestimmungen erlassen – hätte sich ein anderes Problem aufgetan: Wir sind am Beginn des neuen Uni-Semesters, wenn ich auf unabsehbare Zeit nicht zurückkommen kann, hätte ich damit meinen Job riskiert. Die Notwendigkeit von Entscheidungen unter sich rasch verändernden Umständen haben Menschen in unterschiedlichen Situationen getroffen. Ich wünschte noch immer, ich wäre bei meiner Familie in Prishtina.
Die Notwendigkeit von Entscheidungen unter sich rasch verändernden Umständen, haben Menschen in unterschiedlichen Situationen getroffen. Ich wünschte noch immer, ich wäre bei meiner Familie in Prishtina.
Du folgst den Entwicklungen in mehreren Sprachen und Perspektiven sowie auch persönlich über geographische Grenzen hinweg. Hast du das Gefühl, dadurch gleich mehrfach mit all dem konfrontiert zu werden?
Was Isolation und Angst betrifft, ja, das habe ich oft erlebt. Als Teenager in den 1990er Jahren wurden Albaner*innen aus öffentlichen Institutionen ausgeschlossen. Die Stadt war ethnisch getrennt, die albanische Bevölkerung lebte in einer Art Ghetto. Allein dadurch, Albaner*in zu sein, war man permanent gefährdet. Dann begann der Krieg, und Kosovo-Albaner*innen wurden, nach der internen Vertreibung, nun aus ihren Häusern geworfen und gezwungen, das Land zu verlassen. Dafür wurden nur zwei Korridore offengehalten: nach Albanien und Mazedonien. Für Geflüchtete gab es also, neben all den anderen Schwierigkeiten, auch restriktive Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Als der Krieg vorbei war, dachte ich oft, wir hätten genug Problemen abbekommen und daraus resultierend Überlebensstrategien entwickelt, dass es ein Leben lang reichen würde. Die jetzige Isolation triggert mit Sicherheit diese Momente der Angst, die ich in der Vergangenheit erfahren habe, aber das Virus selbst geht über politische und systematische Strukturen hinaus, über politische und kulturelle Unterdrückung, es diskriminiert nicht nach ethnischen und kulturellen Hintergründen und auch nicht nach Klassenzugehörigkeit.
Als der Krieg vorbei war, dachte ich oft, wir hätten genug Problemen abbbekommen und die daraus resultierend Überlebensstrategien entwickelt, dass es ein Leben lang reichen würde. Die jetzige Isolation triggert mit Sicherheit diese Momente der Angst, die ich in der Vergangenheit erfahren habe
Doch obwohl es dadurch den Anschein hat, wir wären angesichts dieser Bedrohung alle gleich, ist das nicht der Fall. Die Pandemie hat die Ungleichheit noch sichtbarer gemacht. Die Armen haben es immer schwerer und jetzt noch mehr. Ebenso Frauen, Kinder, Menschen aus marginalisierten Gruppen und Geflüchtete. Es trifft auf alle Unterdrückten zu, indem sich jede Form der Unterdrückung nun noch verstärkt. Ich versuche also, mir meiner Privilegien bewusst zu sein.
Du bist Anthropologin und engagierte Feministin – was bedeuten Privilegien aus dieser Perspektive jetzt?
Momentan sind genaue Einschätzungen schwierig, da wir in dieser Situation noch am Anfang stehen, aber es zeigt sich wie gesagt, was andere auch schon beobachtet haben, nämlich, dass sich in der Isolation Unterdrückung verschärft. Politische Macht, besonders die der Rechten, findet nun ideale Bedingungen, um weiter zu erstarken. Im Kosovo wurde die linksgerichtete Regierung vom eigenen Koalitionspartner und den Oppositionsparteien gestürzt, mitten in Zeiten einer Pandemie! Um es anschaulich zu erklären: Wenn wir Gesellschaft als vertikale Hierarchie denken, unterdrückt jede Ebene der Macht (der patriarchalen Macht, wenn man so will), die nächste unter ihr. Diese Situation der Pandemie kann also auf verschiedene Weise instrumentalisiert werden, um jeden möglichen Widerstand zu verhindern, jeden möglichen Ungehorsam, individuell wie kollektiv, in welchem Bereich auch immer, zu unterbinden. Das ist, wie gesagt, für marginalisierte Gruppen noch schlimmer. Wir wissen, dass schon in der Zeit vor der Pandemie die Last von Care- und sozialer Reproduktionsarbeit hauptsächlich (wenn nicht ausschließlich) von Frauen getragen wurde. Jetzt setzt sich das fort. Und Frauen, die etwa Haushaltstätigkeiten an andere Frauen ausgelagert haben, erkennen nun die Schwierigkeiten dieser Art von Arbeit und Konstellation. Es wäre ideal, wenn diese Situation Menschen die Bedeutung von Kollektivität erkennen ließe.
Diese Situation der Pandemie kann also auf verschiedene Weise instrumentalisiert werden, um jeden möglichen Widerstand zu verhindern, jeden möglichen Ungehorsam, individuell sowie kollektiv, in welchem Bereich auch immer, zu unterbinden.
Stattdessen kommt es vielfach verstärkt zu häuslicher Gewalt. Daten belegen diese Zunahme von Gewalt gegen Frauen bereits. Das hat mich, unter anderem, dazu gebracht, in diesem Kontext über die Bedeutung von Raum nachzudenken. Über Raum, in dem Gewalt ausgeübt wird, und das ist eben oft zu Hause der Fall, aber auch über Raum hinsichtlich Stadtplanung und Klassenfragen.
Es wäre ideal, wenn diese Situation die Menschen die Bedeutung von Kollektivität erkennen ließe.
Wie wir schon wissen, beeinflusst Raum sehr stark die Bewältigungsmechansimen in Isolation sowie die Beziehung zu Mitbewohner*innen. Das tägliche Leben von Familien (unabhängig von der Größe), die in einem Haus mit Garten wohnt, wo jede*r einen eigenen Raum zur Verfügung hat, ist komplett anders als das einer Familie, die in einer kleinen Wohnung im Gemeindebau lebt. Die aktuelle Situation hat auch Aspekte sichtbar gemacht, die dazu beitragen können, sich weniger über Kultur, Rasse oder Nation zu definieren, sondern angesichts der herrschenden Furcht Zusammenhänge auf der Ebene menschlichen Verhaltens zu erklären. Was sich nämlich klarer und besonders deutlich zeigt, sind die immensen sozialen Klassenunterschiede, sowie rassistische und sexistische Diskriminierung. Ich hoffe, dass diese Situation eine große Wende für unsere politischen und wirtschaftlichen Systeme nach sich zieht und das Ende für herrschende Regime von Unterdrückung und Gewalt bedeutet. Denn einen Mittelweg wird es nicht geben.
Die aktuelle Situation hat auch Aspekte sichtbar gemacht, die dazu beitragen können, sich weniger über Kultur, Rasse oder Nation zu definieren, sondern angesichts der herrschenden Furcht Zusammenhänge auf der Ebene menschlichen Verhaltens zu erklären.
Wenn wir in diesem Kontext über Raum sprechen, tauchen unausweichlich Virginia Woolfs “A room of one’s own” (und eine Reihe weiterer Titel) in meinen Assoziationen auf. Du bist auch Autorin, Literatin – welche Dynamiken (und/oder Veränderungen) nimmst du in diesen Tagen im Umgang mit Sprache wahr und findet diese Krise auch Eingang in dein poetisches Schreiben?
Wenn du “A room of one’s own” zum Schreiben erwähnst, muss ich bitte zuerst einmal einen Schreibtisch und einen Stuhl in meiner Einrichtung hier ergänzen. 🙂
Seit vielen Jahren wechsle ich nun zwischen Englisch als meiner Arbeitssprache und meiner Muttersprache Albanisch. Meine wissenschaftlichen Publikationen schreibe ich auf Englisch, während ich meine literarischen Texte hauptsächlich auf Albanisch verfasse. In beiden Feldern beschäftige ich mich nicht explizit mit der Krise, da das Schreiben an sich für micheine Art permanenter Krise darstellt. Schreiben ist nichts, was mir leicht fällt – das gilt besonders für wissenschaftliche Texte. Bei Literatur ist es zwar etwas anderes, aber für Menschen wie mich, die mit Disziplin und Struktur Probleme haben, birgt es generell „Krisenpotential“. Seit kurzem ist zu meinem akademischen und literarischen Schreiben noch eine neue Form hinzugekommen. Ich schreibe Briefe – und auch das ist gar nicht so einfach, muss ich sagen. Kurz vor dem Lockdown habe ich einen handgeschriebenen Brief von einer Freundin bekommen, die auf Teneriffa lebt. Wir gehören beide zu jener Generation, die ihre Teenagerjahre in Isolation im Kosovo verbracht hat und als der Krieg vorbei war, hat das digitale Zeitalter auch dort Einzug gehalten. Also haben meine Freundin Emine Vala und ich beschlossen dazu überzugehen, uns Briefe zu schreiben – was schon für sich eine lange Geschichte werden wird. Wenn schon nicht wir, werden nun unsere Briefe die Grenzen überqueren.
Wenn schon nicht wir, werden nun unsere Briefe die Grenzen überqueren.
Elife (Eli) Krasniqi ist Anthropologin, feministische Aktivistin und Autorin. Seit 2018 lehrt und forscht sie am Institut für südosteuropäische Geschichte und Anthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz.
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Übersetzung des Interviews aus dem Englischen von Evelyn Schalk und Ulrike Freitag.
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Foto: (c) Ervina Halili