KNOCK DOWN! UND DANN?

Interview, Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise

Stimmen aus der Krise, Stimmen gegen die Krise – 06

(English version: here)

Was lösen die omnipräsenten medialen Bilder dieser Krise aus, wie wirken sie auf Wahrnehmung und Verhalten, jetzt, sowie in der Zeit darüber hinaus? Wie werden Emotionen in Sprache umgesetzt, welche Konsequenzen ergeben sich für das private wie politisches Handeln? Und was bedeutet Freiheit in diesem Kontext? Barbara Philipp hat ein graphisches Knock down diary angelegt – einige Zeichnungen sind hier zu sehen, in den Bildunterschriften finden sich die eigenen Notizen der Künstlerin dazu. Im multimedialen Austausch mit Evelyn Schalk spricht sie über den ganz persönlichen Balanceakt zwischen künstlerischer Reflexion, politischer Analyse, gelebter Mehrsprachigkeit, Ringen um Geschlechterrollen und das Herantasten an eine Realität, die noch nicht Wirklichkeit geworden ist.

TATsachen: Seit Beginn der Corona-Krise dokumentierst du dein Erleben dieses Ausnahmezustands in Form eines graphischen Tagebuchs. Wenn ich heute deine Zeichnungen dieser Wochen sehe, ist das wie eine Reise quer durch mediale Bilder und Titelzeilen, untrennbar verschränkt mit persönlichen Referenzen, emotionalen Reflexionen sowie sehr genauen Beobachtungen von Einzeldetails und ihren Verortungen im Gesamtgefüge. Mit welchem Impuls hast du zu zeichnen begonnen und wie hat sich dein eigener Zugang dabei über die Zeit verändert?

Barbara Philipp: Kurz vor Ausbruch von Corona war mein Vater ins Krankenhaus in Graz eingeliefert worden. Die 24-Stunden-Pflege stand kurz zur Debatte, mein Vater wäre auf diese Betreuungsform angewiesen gewesen, wenn sein Gesundheitszustand sich dann nicht rapide verschlechtert hätte. Ich konnte mit meiner Familie der Verabschiedung beiwohnen, am 14. März haben wir Österreich Richtung Niederlande wieder verlassen. Das war noch quasi die alte Welt. Vor Corona. Erste Verordnungen gab es schon kurz vor dem Begräbnis. Der totale Lockdown in Österreich erfolgte zwei Tage später. Ich bin in ein Land gereist, in dem der “intelligente Lockdown” vollzogen wurde. Jeder Tag und jede Entscheidung in dieser ersten Zeit zählte, da sie kurz darauf nicht mehr individuell frei gefällt werden konnte. Mein Familienleben in den verschiedenen Ländern katapultierte mich direkt in die laufenden Veränderungen des Umgangs mit der Coronapandemie. Und deshalb begann ich zu zeichnen. Um zu verstehen, um aufzunehmen und nachzudenken.

Der erste Impuls war die Frage nach dem Ursprung des Virus. Das Schuppentier, das wir hierzulande eigentlich nur aus Schulbüchern kennen, beflügelte meine Fantasie. Wir lesen Medienberichte, schnappen Schlagzeilen auf. Was fangen wir mit diesen an? Wie verarbeiten wir diese Informationen? Und vor allen Dingen, was bleibt hängen? Meine Kinder haben von der Fledermaus als Überträger gehört und plötzlich fördert dieses Hörensagen überlieferte Ängste, die in den berühmten Vampirgeschichten geschürt werden.

…und plötzlich bekam es die Fledermaus, das Nachttier, das so gefürchtet in Gestalt der Vampire in unseren Köpfen herumflattert.

Die Verschränkung des momentanen Geschehens mit dem Privaten und Politischen interessiert mich. Es gibt nicht eine Wirklichkeit in der Coronazeit, sondern jeder von uns hat mit den Prämissen des Lockdowns zu kämpfen und geht damit anders um. Die Krise zeigt uns jene Blessuren der Gesellschaft, die zuvor gerne übersehen wurden.

Die Pflegekraft, die zuhause ihre Familie hat, ihre Kinder werden von ihren Eltern gepflegt, wegen des Verdienstes.
Politisch herabgewürdigt, zählen sie nun zu den „vitalen Berufen“. Was, wenn sie alle streiken würden?

Der 24-Stunden-Pflegedienst in Österreich beispielsweise, der vor allem auf Pfleger*innen aus Osteuropa baut, steht seit Wochen kurz vor dem Kollaps. Gerne wurden diese Arbeitnehmerinnen als Nutznießer des „Sozialstaates Österreich” gesehen und die Kürzung ihrer Familienbeihilfe in der Gesellschaft angenommen. Und mit einem Male entlarvt die momentane Situation die Scheinheiligkeit dieser populistischen Maßnahme: denn ohne diese Hilfe von außen sackt der “sogenannte“ Sozialstaat Österreich in der Gesundheitsversorgung für Ältere in sich zusammen! Wer hat nun wen ausgenutzt? Da hat schon zuvor etwas ganz und gar nicht funktioniert. Meine Zeichnungen der ersten zwei Wochen von Fledermäusen und Schuppentieren, Grenzsperrungen und Alterspflege verknüpfen diese Gedanken, Berichte und persönliche Erfahrungen, die sich bildlich vielleicht leichter als sprachlich veranschaulichen lassen.

In diesen Wochen verfolgte ich mit meiner österreichisch-italienischen Familie den Verlauf und politische Entscheidungen in verschiedenen Ländern Europas. Mich interessiert momentan (Woche 8) die Auseinandersetzung mit den Schwarzen Löchern. Damit meine ich die gähnende Leere in Konzert- und Schauspielhäusern, vor der Kinoleinwand und dem eigenen Bildschirm zuhause, der bei jeder Konferenzschaltung etliche schwarze Kästchen zeigt, die die Anwesenheit anderer Teilnehmer*innen suggeriert. Mit einem Male spricht man vor vielen schwarzen Kästchen. Ein eigenartiges Gefühl. Balkone haben in diesen Wochen an Bedeutung gewonnen, Balkonien und Dahamas werden als neues Außen gelebt. Balkone waren und sind aber auch immer für die politische Bühne genutzt worden. Hier trifft es sich wieder – das Private mit dem Öffentlichen.
Ich denke, dass mein Zugang im Verlauf dieser Wochen vielleicht an diesen verbalen Ausrufungszeichen festzumachen ist und sich insofern verändert hat, als dass Slogans wie StayHome und Social Distancing mein zeichnerisches Interesse weckten, ich mir aber jetzt allmählich meine eigenen Wörter, in Bezug auf die Entwicklungen, als Ausgangspunkt der Zeichnungen mache (siehe Schwarze Löcher und Balkonien).

An der sprachlichen Dimension wird das Ausmaß dieser Krise vielleicht am ersichtlichsten. Weil du gerade über Balkonien schreibst – Peter Weibel hat heute gesagt: „‚Wohnhaft‘ bekam mit Corona erst seine eigentliche Bedeutung.“

Wohnhaft, unglaublich, ich habe noch nicht über dieses Wort nachgedacht. Finde ich sehr treffend.

Von Beginn an wurde fast ausschließlich über Imperative kommuniziert (StayHome; Pass auf dich auf; Schau auf dich, schau auf mich; Keep distant etc. ), und in der Folge ein sehr martialisches Wortarsenal aufgefahren, viele Politiker*innen (natürlich Trump, Orbán, Vučić, aber davor schon Macron) sagten wörtlich: Wir befinden uns im Krieg. Es sei ein Kampf, eine Schlacht, medizinische Ausrüstung wird gewissermaßen zum Kriegsgerät, es gibt (Ausgangs)Sperren, (Grenz)Schließungen, Dekrete, Verordnungen… Worte, die nicht leer sind, sondern in unerbittliche Realität umgesetzt werden, die aber eine surreale Leere beinhalten, weil es eben um Krankheit, nicht um Krieg geht; der wird daraus gemacht. Wie weit vervielfacht sich diese massive Wahrnehmung bei dir durch deinen vielsprachigen Alltag, der dich die Entwicklungen, auch und besonders medial, parallel in mehreren Sprachen und Perspektiven verfolgen lässt?

Ja, die Wahrnehmung in verschiedenen Sprachen gibt mir Bilder eines Kaleidoskops, durch das ich hindurchschaue und weil es mir manchmal schwindelig wird, versuche ich die einzelnen Bilder zeichnerisch zu fassen und sie mir so anzueignen und ihnen eine eigene Ordnung zu geben. Andere Patterns zu legen sozusagen, je nachdem wie man das Bild dreht.

Und das passiert ja mit Sprache auch, insbesondere wenn man in eine andere Sprache eintaucht und den Kontext versteht, aber vielleicht nicht alle Feinheiten mitbekommt. Aber auch jedes bekannte Wort in einer anderen Sprache hat für mich eine eigene Tiefe oder Höhe, eine eigene Klang- und eben auch Bedeutungsfarbe. In Sprache bekommt man vieles intuitiv mit und fliegt dann förmlich mit den Sätzen, geht mit ihnen auf Reisen, wenn man mit ihnen lebt. Sprache ist für mich Inspirationsquelle und wenn ich beispielsweise Guiseppe Conte und dann den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte sprechen höre, fallen mir schon gewaltige Unterschiede auf, wie Ankündigungen publik gemacht werden. Conte spricht von Strafen und letzte Woche gab er mir das Gefühl, als würde er väterlich – mit Kindern reden. Kurz davor hatte ich Ruttes Pressekonferenz im Radio gehört, der viel von Eigenverantwortung und Ratschlägen sprach. Er redete von einer “erwachsene Gesellschaft”, ich fragte mich, ob diese Worte durch die Vermittlung eines Gefühls der Überlegenheit nicht mehr verdecken, als Freiheit erlauben will. Das sind Nuancen, Verhaltenskodices, die man mit der Zeit entweder versteht und entziffern kann oder auch nicht. Ich liege irgendwo dazwischen, vieles mag mir rau oder ungewohnt vorkommen, aber dieses Gefühl des Nichtvertrauten macht mich auch wachsam. Ich will es, das „allgemeine Verständnis”, halt nicht so schnell akzeptieren – mit dem Risiko der Fehlinterpretation.

In der Fehlinterpretation, im Scheitern liegt für mich aber auch eine Erkenntnis, die einem die Bedeutung der Worte näher bringt. Das interessiert mich. Es gibt nicht eine Weisheit oder eine Wahrheit. Und so komme ich wieder zum Bild des Kaleidoskops zurück. Das Zeichnen sortiert diese Informationen neu, lässt mein Sein mit ihnen zu. In weiterer Konsequenz kann ich dadurch mit anderen in Dialog treten.

Wie du sagst, die Kriegsrhetorik einiger Staatsmänner ist interessant und auch niederschmetternd. Liegt der Krieg nicht genau diametral zur Krankheit? Wenn Menschen aus gesundheitlichen Gründen um ihr Leben kämpfen, wird ein Krieg ad absurdum geführt. Vielleicht sollte wir dann nicht dem sprachlichen Kriegsgerassel unser Gehör schenken, sondern jenen Stimmen zuhören, die sich kümmern. Das Deutsche hat dieses umständliche Wort “sich kümmern” – to take care – s´occuper de qn/qc. Da schwingen schon wieder verschieden Welten und Bedeutungsfelder mit.

Grenzschließungen zu den Nachbarn, die Solidarität wird gedreht und gewendet wie der Staat will; Solidarität im nationalen, aber nicht im europäischen und globalen Denken – Europa spricht über Solidarität. Für wen? – „Mundschutz in Respekt“ vor den anderen.

Jedenfalls ist es verführerisch, diese Fachvokabulare des Kriegsjargons und des Sich-Kümmerns zu vermengen, bei beiden geht es um Angst um das Leben. Doch die Strategie einer Lösung ist nicht dieselbe. Wie spricht also ein staatstragender Politiker oder eine staatstragende Politikerin mit seinen oder ihren Bürger*innen?

Das Schließen der Grenzen und die Besinnung auf Nationalstaaten finde ich bedenklich. Ich bin überzeugte Europäerin und glaube an die Idee, das Ideal eines gemeinsamen Europas. Dass Europa keine solidarische Einheit ist, schwächt die vielen positiven Tendenzen und macht leicht Platz für einen Sprachgebrauch, der Europa zerstückelt. Und das kann man eben in den Zeitungsberichten, in den unterschiedlichen Sprachen und Jargons, gut ablesen. Leider spreche ich keine osteuropäische Sprache, das wäre sicherlich eine unglaubliche Perspektivenerweiterung.

Ich hatte vor der Krise selten niederländische Printmedien wirklich gekauft, oft tat es die Amsterdamer Stadtzeitung Het Parool auch, um über lokale Geschehnisse informiert zu sein. Das hat sich nun geändert, zwar kann man nrc oder die Volkskrant (zwei der größeren Tageszeitungen) auch ein wenig online lesen, aber ich habe es mir jetzt zur Gewohnheit gemacht, die Wochenendausgaben zu kaufen, um über das Land, in dem wir wohnen, informiert zu sein. Das ist die Gefahr, wenn man “zug’reist” ist, in seiner sprachlichen Blase eingeschlossen zu bleiben. Ich genieße es nämlich, auf Deutsch zu lesen, den Standard täglich, aber auch Artikel aus der FAZ oder der Zeit lassen mir meine Muttersprache nicht abhanden kommen. Mein Partner ist Italiener und gemeinsam sprechen wir Französisch. Das heißt, dass ich von den italienischen Medien viel von seiner Seite mitbekomme. So sahen wir zu Beginn oft die italienischen Nachrichten im Fernsehen, auch weil seine Mutter bei uns gestrandet und seit Anfang Februar nicht mehr nach Italien zurückgekehrt ist. Der Fernseher spielt ansonsten bei uns keine große Rolle, das Internet umso mehr. Da wir beide noch einen starken Bezug zu unseren Freund*innen und unserer Studienzeit in Paris haben, informieren wir uns, da uns naheliegend, auch über die Situation in Frankreich.

Und ja, da Amsterdam sehr international ist und wir viel auf Englisch kommunizieren, lese ich gerne Artikel im Guardian oder in anderen Zeitungen, die mir themenspezifisch von Freund*innen und Bekannten weitergereicht werden.

Deine sprachliche und bildliche Aneignung lese ich in diesem Kontext nicht zuletzt als Selbstermächtigung, als Rückgewinnung von Definitionsmacht, öffentlich wie persönlich – bekommt hier womöglich auch Kunst erst ihre eigentliche Bedeutung?

Die Frage der eigentlichen Bedeutung der Kunst kann ich nicht im allgemeinen beantworten. Kunst ist für mich wie eine eigene Sprache, die man erlernen kann und je besser man ihr Vokabular versteht, umso mehr kann man sich auch spirituell angeregt über seinen Schatten springen und seinen Horizont erweitern.

Kunst sprengt Grenzen, das Gegenteil von dem, was jetzt passiert. Ist das vielleicht ein Grund, warum die Kunstförderung bzw. finanzielle Rettung in so vielen Ländern nun versagt? 

Dabei wäre Kunst eine Sprache, die nicht an eine Nation gebunden ist. Wir werden von diesem Nationendenken geprägt, aber die Kunst ist transzendent (überschreitend) und macht den Geist frei (nun muss ich lachen und an den Spruch auf der Wiener Secession denken, der hat noch immer seinen Bedeutungsanspruch, auch oder besonders in der heutigen Zeit).

In einer deiner Notizen erwähnst du die „Männersprache“, als diejenige, die Pläne schmiedet – wenn ich nicht irre, in derselben Woche, in der du die Reifröcke als neue alte Idee des Social Distancing in deine Zeichnungen aufnimmst. Siehst du in der Krise, durch verschärften finanziellen Druck, aber auch die erzwungene Häuslichkeit sowie öffentliche Machtpräsenz, die alten Geschlechterrollenbilder und Verhaltensmuster weiter/wieder erstarken? Die medial transportierten Bilder gleichen sich, zumindest in meiner Wahrnehmung, vielfach international stark… Oder verändern sich die Abläufe vielmehr durch die gezwungenermaßen andere Situation und bieten Chancen zur Neuinterpretation und -formation?

Durchs Netz gefallen, im Netz gefangen, Reifenröcke als neue Mode im Gedankengut und im “Social Distancing“ auf der Straße (was hinter der Maskerade passiert, weiß ich nicht mehr). Männersprache, die Pläne schmiedet, aber einiges bewusst (suggeriert) nicht ausbalanciert.

Das ist eine spannende Frage. Ich habe soeben einen kurzen Text für die Buchpräsentation* in Wien geschrieben. Ich denke, dass in diesem Text zum Teil schon die Antwort auf deine Frage liegt. Ja, ich denke, dass der finanzielle Druck in Familien die Frauen wieder in eine Rolle zurückschickt, die sie “ja eh am besten machen”. So der allgemeine Kanon, der aus der Presse oft mitschwingt. Frauen zurück an den Herd! Das ist in Krisenzeiten doch normal. Das macht mich wütend. Ich bin damit einfach nicht einverstanden. Egal ob Frau oder Mann, Transgender oder Transsexuell, ich denke, dass jeder Mensch zur Sorge beitragen kann. Und man sich diese Aufgaben in einer Familie teilen sollte, ohne dass die eine sich verantwortlicher als der andere fühlt. Wirtschaftliche und soziale Faktoren schnüren das Korsett für Frauen jedoch enger. Und bei ungleicher Bezahlung oder einem Teilzeitjob, den meistens Frauen ausüben, um eben mehr Zeit mit den Kindern zu haben, ist die Frage nach der Haushaltsbilanzierung klar. Frauen leben auch noch immer mit dem Gefühl der Verantwortlichkeit für das Häusliche. Wachsen noch immer damit auf. Patriarchale Strukturen leben in den Köpfen fort und werden dann in Notsituationen wie diesen plötzlich sehr augenscheinlich, aber mangels Alternativen schwer zu umgehen. Als Künstlerin ist die Frage nach dem Verdienst und Aufteilung natürlich umso prekärer, da es selten ein geregeltes Einkommen gibt.

Ich kann nur hoffen, dass die Offenlegung dieser Wundstellen in der Gesellschaft die Politik hellhöriger macht und die Chance nützt um Weichenstellungen für Änderungen zu bieten. Mit der Bewegung des Klimaschutzes der letzten Jahre tat sich einiges, wenn auch nicht genug. Ein medialer Wirbel entstand, Taten sollten noch folgen. Doch es braucht tatkräftige Unterstützer*innen, für den Klimaschutz und die Gleichberechtigung. Der Aufschrei und Protest in der Gesellschaft muss sehr laut sein, damit dieser auch gehört wird und nicht verhallt – da fürchte ich mich ein wenig, dass die Stimmen verschluckt werden, denn die Macht der Verordnungen sind besonders im Ausnahmezustand verlockend und einige Staaten haben dies schon genützt, um ihre Regierung aus der, anstatt in die Demokratie zu führen. Gleichbehandlung ist dann schnell nur eine unangenehme Nebensache.

Um auch etwas Positives anklingen zu lassen: Bei vielen befreundeten Paaren hörte ich, dass sie die gemeinsame Zeit zuhause einander näher brachte, man Dinge wieder gemeinsam unternahm oder ausprobierte, eben weil Zeit vorhanden war. Demnach wäre der Luxus jener Frage ebenfalls erlaubt: Muss unsere Wirtschaft immer mehr wachsen? Was ist, wenn wir uns als Gesellschaft mehr Zeit zum Sein und Wahrnehmen (und nicht nur zum Arbeiten) nehmen? In dieser Frage steckt ein unglaublicher Reichtum, denn es wäre dann nicht jeder Tagesschritt effizient kalkuliert. Es gäbe kreativen Spielraum (und mein weiterführender Gedanke geht zum unbeschränkten Grundeinkommen).

In Amsterdam (ich kann nicht für das ganze Land sprechen, Hauptstädte sind immer etwas anders) scheint die Last der Sorge für die Kinder unter den Paaren gerechter aufgeteilt zu sein, es gibt den berühmten Papa- und Mamatag unter der Woche, viele Väter arbeiten nur vier Tage in der Woche, wenn die Kinder klein sind. Gleichgeschlechtliche Ehen sind ein normales Gesellschaftsbild und oft kommt mir die Aufteilung der Kinderbetreuung bei gleichgeschlechtlichen Paaren ausgeglichener vor. Allerdings, wenn man ein bisschen tiefer in die Gesellschaft blickt, sieht man, dass die Teilzeitarbeit auch im Norden weiblich ist und es erst seit 2019 eine Papa/Partnerwoche nach der Geburt eines Kindes gibt, seit 2020 kann man als Partner 5 Wochen anfragen. Das würde man nicht glauben, aber diesbezüglich bietet Österreich mehr Auswahlmöglichkeiten. Mutterschutz und Karenzzeit für Frauen ist in den Niederlanden generell auf insgesamt 16 Wochen beschränkt, danach muss man, meistens finanziell gezwungen, auch wieder in den Arbeitsprozess einsteigen, was manche Frauen nicht unbedingt gutheißen. Diesbezüglich wird wenig auf die verschiedenen Bedürfnisse eingegangen.

Kurzs Aussage jedoch, man sollte sich nicht schämen, Kinder in die Betreuungseinrichtungen zu schicken, wenn man nicht mehr kann, ist mir sehr im Magen gelegen. Da Kurz nicht dem Greisenalter zuzuordnen ist, befremdet mich diese antiquierte Aussage umso mehr. Was soll das heißen? Unterschwellig wird den Betreuungsstätten weniger Professionalität als den Eltern in Fragen der Erziehung zuerkannt, wobei die Ausbildung zu Erzieher*innen und Pädagog*innen wenig wertgeschätzt wird. Und diese geringe Wertschätzung spüren viele “vitalen” Berufe, die die Gesellschaft jetzt am Laufen gehalten haben. Es wäre schön gewesen, wenn man sich politisch schon früher im Klaren gewesen wäre, dass die Bezahlung und Ausstattung in diesen Berufssparten völlig inadäquat ist.

Das lässt sich allerdings in ganz Europa mehr oder weniger ablesen. Sorge finanziell so sehr aufzuwerten, dass Frauen nicht in die Altersarmut rutschen und es eben auch eine Männersache im Berufs- und Privatleben wird, wäre ein politisch und gesellschaftlich anzustrebendes Ziel.

Ich habe den Eindruck, die momentane Situation oszilliert (unter verschiedenen Voraussetzungen und Stadien der Abläufe) zwischen neuem Bewusstsein um Fragilität (sowie unterschiedlicher Verteilung) von Freiheit, aber auch von Angst. Wie frei fühlst du dich gerade?

Lustig, gestern im Atelier dachte ich genau darüber nach. An die Verflüchtigung und an das, was trotzdem bleibt. Die Angst, die Unsicherheit, denn einen Kaffee trinken zugehen, ist noch nicht normal. In Amsterdam sind Cafés und Restaurants noch nicht offen, es gibt zwar keine Maskenpflicht (die kommt ab 1. Juni für den öffentlichen Verkehr), aber noch immer scheint alles abzuwarten.

„Bitte warten!“, wir sind in eine Endlosschleife gesetzt. Und was ist, wenn man einfach aussteigen möchte? Auszusteigen würde bedeuten, aus einem fliegenden Flugzeug zu springen. Nur die fliegen im Moment nicht. Herausspringen aus dieser neuen Wirklichkeit … das würde ich gerne. Aber da es kaum “Flugzeuge” gibt, fällt man auf sich selbst zurück. Es dreht sich also alles ums Gleichgewicht halten. Einen Balanceakt meistern. Den bewerkstelligen wir seit zwei Monaten. Eine Freundin schrieb mir, dass sie aus ihrer Bubble, ihrer Blase, wieder aussteigen muss. Und dass das gar nicht so einfach klappt. Wenn diese Blase auf einmal platzt, dann wird der Aufprall mit höchster Wahrscheinlichkeit schmerzhaft sein. So fühle ich mich im Moment.

Und in weiterer Konsequenz wird diese 10. Woche die letzte meiner Knock Down Zeichnungen sein. Das hat sich jetzt einfach so ergeben, ich habe den Beschluss nicht rational gefasst. Die Parameter haben sich verändert. Die Suche nach dem Zurück ist ein Herantasten an eine Realität, der ich jetzt in nächster Zeit mehr mit performativen Treffen in meinem „Wiener Kaffeehaus“ in meinem Amsterdamer Studio nachgehen möchte. Ich weiß nicht, was kommt. Jetzt muss ich innehalten. Schreiben – und mich austauschen. Vielleicht sind meine Zyklen des Arbeitens genau konträr zur Bewegung des allgemeinen Aufatmens nach dieser Lähmung.

Aber wie schon gesagt: Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit. Ich hoffe, dass die Sektionsabteilungen, die sich die Kunst- und Kulturagenda in Europa auf ihre Fahnen schreiben, das azkylische Muster, das Unerwartete im kreativen Sektor in Zukunft besser miteinbeziehen und den Sorgen und Nöten der vielen Freischaffenden (besonders auch mit Kindern! Die Kinder mussten als erste ran, damit sie ja nichts versäumen. Vor was haben wir derart Angst? Hatten wir genug Zeit um mit ihnen über das zu sprechen, was von statten geht? Die konstruierten Dringlichkeiten haben vieles verdeckt. Glücklicherweise nicht alles. Aber das scheint ein genereller Mechanismus zu sein um nicht nachzudenken zu lassen, warum wir das alles tun. Das wäre auch für Kinder interessant zu hinterfragen.) auch auf langer Sicht gerechter werden. Das wäre ein Hoffnungsschimmer, eine Chance.

***

Präsentation des Künstlerbuchs Mothers Matter, in der Galerie Ortner2 in Wien, 12.6.2020:Mothers Matter geht uns alle an. Der Titel hat zwei Bedeutungen: die Angelegenheit der Mütter oder Mütter zählen. Was ist die Angelegenheit der Mütter? The Never come Back Story stellt als erstes Kapitel die Thematik des Buches vor. Denn die körperliche Transformation führt auch zu einer sozialen Umstrukturierung, die Fragen nach dem Warum und Wie stellt. Warum sollte Pflege und Kinderbetreuung nur eine Sache der Frauen sein? Wie verhält es sich mit den Idealen in der Wirklichkeit? Und wie prägt die politische Sprache das Rollenverständnis in der Gesellschaft? Eine Lautstärke finden, so heißt das zweite Kapitel, Zeit um über die Themen zu diskutieren. Nicht nur intern. Dieses Buch geht uns alle an. Having Balls und I am not the man I used to be (life as a female artist) zeigen in ihren Kapiteln die Doppelmoral des patriarchalen Systems, in dem wir noch immer leben. Und die finanzielle Überlebensfrage nach dem Mehrverdienst nimmt manchen Paaren jegliche Entscheidungsfreiheit ab, da Frauen für denselben Job noch immer nicht das gleiche Gehalt bekommen. Das System manipuliert. Die Verteilung der Aufgaben in der Familie nach Geschlecht könnte zu keinem besseren Zeitpunkt als jetzt hinterfragt werden. Das Künstlerbuch führt zeichnerisch durch die Isolation, in der sich Mütter befinden können, und beobachtet wie die Protagonistin ihre Suche nach einer Stimme im öffentlichen und politischen Raum aufnimmt. Oft ist diese Suche einsam und steht doch exemplarisch für eine große Anzahl an jenen Frauen, die sich in Situationen wiederfinden, deren Existenzmöglichkeiten sie zuvor ausgeschlossen hätten. Was geben wir der nächsten Generation an Vorgelebten mit?

Eine weitere Zeichnung der Knock down Serie findet sich am Cover der aktuellen Doppelausgabe #93/94 des ausreißer – Die Wandzeitung.

Barbara Philippist bildende Künstlerin und arbeitet in Amsterdam und Wien. Sie setzt sich in ihren Arbeiten mit dem Ephemeren des physischen Seins auseinander und erforscht dessen Projektion und Interpretation in der Gesellschaft. Sprache ist ein wichtiger Ausgangspunkt in ihren Arbeiten. Ihr künstlerisches Spektrum umfasst Zeichnungen, Malerei und Performances. Sie nahm u. a. an den Mothernists Konferenzen in Rotterdam (2015) und in Kopenhagen (2017) teil, engagierte sich für m/other voices und ist seither besonders in der internationalen Vernetzung eines feministischen Austausches von Künstler*innen mit Kindern aktiv. Sie hat an der énsba in Paris, an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und an der Städelschule in Frankfurt studiert.

www.barbaraphilipp.com

http://www.mbassyunlimited.org/008-barbara-philipp/

Foto: (c) Adrian Pasi