WOVON NICHT GESPROCHEN WIRD
Von Wolfgang Gulis
Die europäische Staatengemeinschaft taumelt im Ring der falschen Fragen mit den falschen Antworten wie ein angeschlagener Boxer – unfähig, gemeinsame politische Lösungen zu finden. Denn die entscheidenden Fragen kommen im Mainstream-Diskurs um Asyl erst gar nicht zur Verhandlung.
Guy Verhofstadt, belgischer Liberaler und bekannt für seine pointierten und scharfen Reden im Europäischen Parlament1, hat die aktuelle Situation auf zwei Punkte gebracht: Erstens, es ist keine Flüchtlingskrise, sondern eine Politikkrise, die auf dem Rücken der Flüchtlinge und Migrant*innen ausgetragen wird. Zweitens, es ist keine europäische Politik, sondern schlicht Nationalismus und staatlicher kleingeistiger Egoismus – sprich Populismus nach dem billigen NIMB-Motto: Not in my backyard!
Die Politiker*innenkrise wurde schon Anfang der 1990er Jahre diagnostiziert. Damals, als der Migrationsdiskurs durch den Zusammenbruch des Ostblocks und durch das Ende der Nachkriegsordnung (1945 – 1989) andere Formen annahm, begannen die Nationalstaaten und die EU-Institutionen sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Es waren aber nicht die Bildungs-, Sozial- und beispielsweise Arbeitsmarktpolitiker*innen, die Migration zum Thema machten, sondern die Innen- und Justizpolitiker*innen, sowie die Militärs. Grund- und Menschenrechte, insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention, standen nicht auf der Prioritätenliste der Akteur*innen.
Schutz nach innen, Festung nach außen
Dementsprechend richtete sich das Augenmerk auf Grenzsicherung, Abwehrstrategien gegen Flüchtlinge/Migrant*innen, auf Ab-, Zurückschiebungen von Geflüchteten sowie Verhinderung des Betretens von EU-Territorium. Maßgeblich beteiligt daran war auf europäischer Ebene die TREVI-Gruppe: Unter diesem Namen trafen sich bereits seit den 1970er Jahren die Innenminister der damaligen EG-Staaten, um „Terrrorisme, Radicalisme, Extrémisme und Violence Internationale“ zu bekämpfen. Ihre Vorarbeiten und Expertisen flossen in das Schengen-Vertragswerk und die weiteren Verträge von Amsterdam und Lissabon ein. Zur Erinnerung: Der Schengen-Vertrag sieht ja einen vollkommenen Abbau der innerstaatlichen Grenzen in EU-Europa vor – zum Preis des verstärkten Schutzes respektive Abriegelung der Außengrenzen. Dahinter steckt die Idee der Festung Europa.2
Diesem bipolaren Konzept – nach innen freizügig, nach außen abgeschottet –, das im Vertrag von Amsterdam 1997 noch einmal bekräftigt wurde, unterliegt die heute so widersprüchliche und sich selbst lähmende EU-Politik. Auf dieser Grundlage fußen alle weiteren Schritte und Normen, die in den Jahrzehnten folgen sollten: Dublin-Regelungen, Eurodac, Eurosur, Aufbau von Frontex usw.
Doch je stärker man versuchte, den Schutz der Außengrenzen zu verwirklichen, desto rigider, verbissener und einfältiger wurden die Maßnahmen, die nicht zuletzt im Widerspruch zum einstigen Bestreben stehen, die Länder des ehemaligen Ostblocks nach und nach in die Gemeinschaft einzugliedern. Aus Schutz wurde Abschottung: Militär an die Grenzen, Mauerbau, Stacheldraht, Aufrüstung der Grenzschutztruppen mit Personal und modernsten Gerätschaften. Das ist nicht verwunderlich, denn lässt man Militärs sowie Innen- und Polizeiminister freie Hand, wenden sie eben die Mittel an, auf die sie sich verstehen. Der Beruf prägt das Denken.
Wären andere Politikfelder mit divergierenden Sichtweisen für das Thema verantwortlich gewesen, wäre das Ergebnis – die Debatten, die wir heute führen und Entscheidungen, die wir heute treffen – mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderes. Denn die Fragen nach der Umsetzung der Menschenrechte3, nach Lösungen für sicheres Geleit von Flüchtlingen, nach menschenwürdiger Erstversorgung in den Erstaufnahmeländern, nach fairen und raschen Asylverfahren, der bestmöglichen Aufnahme und Unterbringung und vieles mehr; all das stand nie auf der militärisch-politischen Agenda.
… die Fragen nach der Umsetzung der Menschenrechte, nach Lösungen für sicheres Geleit von Flüchtlingen, nach menschenwürdiger Erstversorgung in den Erstaufnahmeländern, nach fairen und raschen Asylverfahren, der bestmöglichen Aufnahme und Unterbringung und vieles mehr; all das stand nie auf der militärisch-politischen Agenda.
Neo-Kolonisator*innen
Ursachen und Gründe der Fluchtbewegungen, die wir in den letzten dreißig Jahren immer wieder erleben mussten (rumänische Revolution, Kriege in Jugoslawien, Somalia, Afghanistan, Irak, Syrien usw.), bleiben außen vor, werden in der Debatte kaum erwähnt. Die geostrategischen Ränkespiele tun ein Übriges. Etwa im Syrien-Krieg, bei dem Regional- (Iran, Türkei, Saudi Arabien) und Weltmächte (USA, Russland) mit den nationalistischen und oft religiös aufgeladenen und ethnischen Konfliktlinien spielen, um ihre Interessen durchzusetzen. Diese bauen auf historische Kolonialpolitik auf – etwa dem Sykes-Picot-Abkommen von 1916, mit dem Großbritannien und Frankreich im Nahen Osten ihre Interessensphären aufteilten.4 Durch gezielte Aktionen können Unruhen an diesen historischen und aktuellen Konfliktlinien rasch geschürt und befeuert werden, um die jeweiligen Interessen durchzusetzen; nicht zuletzt sind es dann wirtschaftliche – wie etwa die der europäischen Waffenschmieden, die sich in allen Konflikten immer eine goldene Nase verdienen, dabei also ein gewichtiges Wort mitreden wollen.5
Außen vor bleiben zudem die hier kaum präsenten Migrationsursachen; die aussichtslosen Zustände von afrikanischen Staaten, die in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu „failed states“ – zu zusammenbrechenden Staatsgefügen – geworden sind. Tschad, Mali, Südsudan, Eritrea, Libyen, Nigeria: Die Liste könnte man lange fortsetzen. Postkoloniale Ambitionen europäischer Länder (Frankreich, Großbritannien u.a.), die in Eintracht mit und Stabilisierung von korrupten, brutalen und gierigen Eliten, auch unter dem Deckmantel von Entwicklungshilfe, jede Form der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in den Ländern unterbinden. Gepaart mit aktuellen ökonomischen Interessen und einer brutalen Teile- und-herrsche-Politik sorgen sie so dafür, dass der Migrationsdruck steigt.
Die Verursacher*innen bleiben außen vor
Dort, wo es um viel geht, insbesondere bei Agrarsubventionen der EU oder Freihandelsverträgen6 mit afrikanischen Staaten, entpuppen sich die EU und speziell die einzelnen wichtigen Länder (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) als Neo-Kolonisator*innen, die ihre kurzsichtigen Interessen durchzusetzen wissen. Den Schwächeren wird diktiert, was der EU und den in der EU ansässigen multinationalen Unternehmen nützt.
Den Schwächeren wird diktiert, was der EU und den in der EU ansässigen multinationalen Unternehmen nützt.
Jene Bauern/Bäurinnen* oder Fischer*innen, die früher einmal recht und schlecht von ihrer Ernte leben konnten, wurden durch die Übermacht der EU-Wirtschaft7 in die Knie gezwungen. Die Landflucht verschärft sich, in den Städten wächst das Heer der Tagelöhner*innen, von dort vor allem machen sich Auswanderungswillige auf den Weg nach Europa. So manche tauchen auch als somalische Piraten im Golf von Aden kurzfristig in den europäischen Schlagzeilen auf oder eben als illegalisierte Arbeitsmigrant*innen in den Glashäusern Italiens oder Spaniens.8 Wenn sie es schaffen – andernfalls bleiben sie als Arbeitssklaven in Libyen hängen oder enden als Tote im Mittelmeer.
Jene Strukturen, Gesetze, bi- und multilateralen Verträge, die die Übermacht der EU gegenüber den afrikanischen Staaten sicherstellen, werden kaum zum Thema gemacht. Würden die schäbigen Deals, die Erpressungen und das fortgesetzte Ausbeutungsverhältnis fokussiert, stünden nicht die „illegalen Migrant*innen“ im Mittelpunkt, sondern die illegalen, unethischen und brutalen Praktiken der europäischen Politik und der Unternehmen.
Zynisch ließe sich folgern, dass die EU einfach nur erntet, was sie gesät hat. Solange dieses System nicht verändert wird und fortbesteht, wird das Sterben im Mittelmeer weitergehen, wird der Migrationstross weiter anschwellen und die Kosten für die Militarisierung der EU-Außengrenzen werden explodieren. Es wäre also höchst an der Zeit, diese Einbahnstraße zu verlassen und radikal an den Wurzeln des Problems anzusetzen.
1 Etwa letztens während der Rede von Bundeskanzler Kurz im Europäischen Parlament: https://www.facebook.com/ALDEgroup/videos/10156111748715020/UzpfSTEzODEzMDc0Mzg6MTAyMTIzNTMyOTA3MzIzMTc/
2Der Begriff wurde ursprünglich von Joseph Goebbels für die vom „Deutschen Reich“ besetzten Teile Europas etabliert. https://de.wikipedia.org/wiki/Festung_Europa
3 Insbesondere der konkreten Ausgestaltung der GFK im Hinblick auf die neuen Flüchtlingssituationen.
4 Francois Georges Picot und Mark Sykes waren zwei Diplomaten, die für Frankreich und Großbritannien die Aufteilung der Region verhandelten, Großbritannien erhielt Jordanien, den Irak, die Region um Haifa. Das französische Protektorat umfasste die Südosttürkei, Nordirak, Syrien und Libanon. https://de.wikipedia.org/wiki/Sykes-Picot-Abkommen
5 http://www.spiegel.de/politik/ausland/sipri-studie-waffenverkaeufe-nehmen-weltweit-wieder-zu-a-1182649.html
8 Mathilde Auvillain und Stefano Liberti haben den Kreislauf in einer wunderbaren Reportage festgehalten und analysiert: „Tomatensoße für Ghana“ https://monde-diplomatique.de/artikel/!313481